Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
Vom Netzwerk:
geschah aber nicht nur, weil jeder seinen Kopf auf Kosten anderer retten wollte, sondern vor allem, weil sie völlig verschiedenen Organisationen angehörten und in Nürnberg alte, tiefeingewurzelte Feindseligkeiten untereinander austrugen. (So hatte z. B. der bereits erwähnte Dr. Hans Globke auch versucht, sein Innenministerium auf Kosten des Auswärtigen Amtes zu entlasten, als er in Nürnberg als Zeuge der Anklage aussagte.) Im gleichen Sinne machte sich nun Eichmann daran, das RSHA, also Müller, Heydrich und Kaltenbrunner, abzuschirmen, wobei es ihm auch nicht darauf ankam, daß der letztere ihn ziemlich schlecht behandelt hatte. Zweifellos war es einer der hauptsächlichen objektiven Fehler der Anklagebehörde in Jerusalem, daß sie sich bei ihrer Beweisführung zu stark auf beeidigte oder unbeeidigte Aussagen von seinerzeit prominenten Nazis, toten oder lebenden, stützte; sie sah nicht, konnte vielleicht auch nicht sehen, wie anfechtbar diese Dokumente waren, wenn sie als Beweismaterial dienen sollten. Sogar das Urteil hat bei seiner Bewertung der für Eichmann nachteiligen Aussagen anderer Naziverbrechen in Betracht gezogen, daß (wie es Horst Grell, ehemaliger Obersturmbannführer und Legationsrat in Budapest, als Zeuge der Verteidigung formulierte) es in Nürnberg durchaus »üblich war, unter dem Eindruck eines einseitigen Siegergerichtes die Angeklagten vor diesem Gericht zum Nachteil von Abwesenden oder von vermutlich Toten zu entlasten«.
    Als Eichmann im Amt IV des RSHA, in seiner neuen Dienststelle, anfing, befand er sich noch immer in der unangenehmen Situation, daß die offizielle Formel für die »Lösung der Judenfrage« nach wie vor »forcierte Auswanderung« vorschrieb, obwohl Auswanderung inzwischen ganz unmöglich geworden war. Zum ersten (und beinahe letzten) Male in seinem Leben in der SS war er durch die Umstände gezwungen, die Initiative zu ergreifen, zu sehen, ob er nicht »eine Idee gebären« könne. Seiner eigenen Darstellung im Polizeiverhör zufolge hat er der Welt drei Ideen beschert, allerdings war jede, das mußte er zugeben, ein Schlag ins Wasser. Aber so war es eben mit allem gewesen, was er selbständig in die Wege leitete, alles ging ihm schief; den letzten Schlag mußte er einstecken, als er von seiner Privatbefestigung in Berlin wegbefohlen wurde, bevor er sie noch gegen russische Panzer hatte ausprobieren können. Ihm glückte eben rein gar nichts, das ganze Leben war eine Kette von Pechsträhnen gewesen, die er nun alle mit großem Gefühlsaufwand für sich selbst »von sich gab« und jeweils mit dem dazugehörigen Klischee abschloß: »Aus der Traum!« Die nie versiegende Quelle allen Übels war eben, daß man ihn und seine Leute nie in Ruhe ließ, daß all die anderen Staats- und Parteibehörden ihren Anteil an der »Lösung« haben wollten mit dem Ergebnis, daß allenthalben ganze Armeen von »Judenexperten« aus dem Boden wuchsen und übereinanderstolperten bei dem Versuch, Lorbeeren in einem Gelände zu gewinnen, von dem sie keine Ahnung hatten. Für all diese Leute konnte Eichmann nur tiefste Verachtung hegen, teils weil sie sich ja früher für die Judenfrage gar nicht interessiert hatten, teils weil sie sich zu bereichern suchten und oft genug im Verlauf ihrer Tätigkeit auch wirklich beträchtliche Reichtümer ansammelten und schließlich auch, weil sie keine gründlichen Kenntnisse aufzuweisen hatten. Wer von ihnen hatte schon eines oder gar zwei »grundlegende Werke« gelesen?
    Eichmanns drei »Ideen« waren nämlich, wie sich zeigte, von eben jenen »grundlegenden Werken« inspiriert worden. Zwar stellte sich schließlich heraus, daß zwei gar nicht seine eigenen Ideen waren, und was die dritte betraf – nun, »da weiß ich nicht mehr, gebar Stahlecker die Idee oder gebar ich die Idee, jedenfalls sie wurde geboren«. Diese letzte – chronologisch gesehen übrigens die erste – war die »Nisko-Idee«, und gerade ihr Scheitern war für Eichmann der beste Beweis dafür, daß viele Köche den Brei verderben. (Der Übeltäter im vorliegenden Fall war der Generalgouverneur von Polen, Hans Frank.) Um diesen Plan zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, daß nach der Eroberung Polens und vor dem deutschen Angriff auf Rußland die polnischen Gebiete zwischen Deutschland und Rußland aufgeteilt worden waren; der deutsche Teil bestand aus den Westprovinzen, die ans Reich angeschlossen wurden, und den sogenannten Ostgebieten mit Einschluß von Warschau, die im

Weitere Kostenlose Bücher