Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Madagaskar auszuarbeiten, und bis zum Beginn des Feldzugs gegen Rußland scheint dieses Projekt den größten Teil seiner Zeit beansprucht zu haben. (Vier Millionen war eine frappierend niedrige Zahl, um ganz Europa »judenrein« zu machen. Ganz offensichtlich fehlten in dieser Berechnung die drei Millionen polnischer Juden, die ohnehin, wie jedermann in diesen Ämtern wußte, seit den ersten Tagen des Krieges massenweise liquidiert wurden.) Daß außer Eichmann und vielleicht noch ein paar ähnlich verbarrikadierten Gehirnen irgendwer die ganze Sache je ernst genommen hat, ist sehr unwahrscheinlich, denn dieser Plan hätte – abgesehen davon, daß das Gebiet für Kolonisation bekanntlich ungeeignet war und daß es sich schließlich um französischen Besitz handelte – mitten im Krieg Schiffsraum für vier Millionen Menschen erfordert, und zwar zu einer Zeit, da die britische Flotte den Atlantik beherrschte. Der Madagaskar-Plan sollte von vornherein als Deckmantel dienen, unter dem die Vorbereitungen für die physische Vernichtung des westeuropäischen Judentums vorangetrieben werden konnten (die Ausrottung der polnischen Juden war ohnehin beschlossene Sache, für die es keines Deckmantels bedurfte); sein großer Vorteil bestand darin, daß er die unzähligen gelernten und ungelernten Judenexperten der NSDAP, die bei allem ideologischen Eifer immer einen Schritt hinter dem Führer zurückblieben, zunächst einmal an die Vorstellung gewöhnte, daß Sondergesetze, »Dissimilation« und sogar Gettos nur halbe Maßnahmen waren, daß also einzig die vollständige Evakuierung der Juden aus Europa in Frage kam. Als das Madagaskar-Projekt ein Jahr später für »überholt« erklärt wurde, war jedermann psychologisch oder vielmehr logisch auf den nächsten Schritt vorbereitet: da kein Territorium vorhanden war, wohin man »evakuieren« konnte, blieb als einzige »Lösung« die Vernichtung.
Nicht daß Eichmann, dieser große Durchschauer und Enthüller historischer Sachverhalte, je den Verdacht gehabt hätte, daß sich hinter dem Madagaskar-Projekt solch finstere Pläne verbargen! Nur am Zeitmangel sei das Unternehmen gescheitert, andere Dienststellen hätten mit unaufhörlichen Einmischungen die Zeit verschwendet, die bis zum Ausbruch des Krieges gegen Rußland verblieb. In Jerusalem, wo die Polizei wie das Gericht versuchten, ihn in seiner kuriosen Selbstsicherheit zu erschüttern, wurden ihm zwei Dokumente vorgelegt, welche die obenerwähnte Konferenz vom 21. September 1939 zum Inhalt hatten. Eins davon war ein Fernschreiben von Heydrich, das Direktiven für die Einsatzgruppen enthielt und zum ersten Male zwischen einem »Endziel, welches Fristen beansprucht« und als »Streng Geheim« zu behandeln war, und »den Abschnitten der Erfüllung dieses Endziels« unterschied. Die Formulierung »Endlösung« kam noch nicht vor, und das Dokument enthält keinen Aufschluß darüber, was mit »Endziel« gemeint war. So hätte Eichmann sich getrost damit herausreden können, daß dieses »Endziel« eben sein Madagaskar-Projekt gewesen sein mußte, das ja damals zwischen den verschiedensten deutschen Ämtern hin und her jongliert wurde, und daß für so eine Massenevakuierung die Konzentrierung aller Juden ein unentbehrlicher Vorbereitungs-»Abschnitt« gewesen sei. Doch Eichmann las das Dokument sorgfältig durch und sagte sofort, er sei davon überzeugt, daß mit dem Ausdruck einzig die »physische Vernichtung des Judentums« gemeint sein konnte: »Die grundsätzliche Konzeption hat mit dem Datum der Abfassung dieses Erlasses in der hohen und höchsten Führung bereits festen Fuß gefaßt.« Das war nun wohl in der Tat die Wahrheit – nur hätte er daraufhin zugeben müssen, daß das ganze Madagaskar-Projekt nichts weiter als ein aufgelegter Schwindel gewesen sein kann. Das tat er nun aber nicht, er hat seine Madagaskar-Geschichte nie geändert, und vermutlich konnte er sie einfach nicht ändern. Es war, als ließe sein Gedächtnis für diese Geschichte ein separates Tonband ablaufen – dieses auf Band fixierte und katalogisierte Gedächtnis, das völlig abgesichert zu sein schien gegen Vernunft und Argumente, gegen Informationen und Einsichten jeglicher Art.
Sein Gedächtnis verzeichnete eine Ruhepause, die zwischen dem Ausbruch des Krieges (der, wie Hitler am 30. Januar 1939 vor dem Reichstag »prophezeit« hatte, zur »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« führen müßte) und dem Einmarsch nach Rußland in den
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