Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Generalgouvernement zusammengefaßt waren. Vorerst wurden diese Ostgebiete als Besatzungsgebiet behandelt. Da die »Lösung der Judenfrage« damals noch »forcierte Auswanderung« hieß und zum Ziel hatte, Deutschland »judenrein« zu machen, lag es natürlich nahe, die Juden aus den annektierten Gebieten zusammen mit den Juden, die in anderen Teilen des Reichs noch anzutreffen waren, nach dem Generalgouvernement abzuschieben, das – was auch immer sein wirklicher Status gewesen sein mochte – auf jeden Fall nicht zum Reich gerechnet wurde. Um den Dezember 1939 herum war die Evakuierung nach Osten angelaufen, und ungefähr eine Million Juden – 600 000 aus den annektierten Gebieten und 400 000 aus dem Reich – trafen nach und nach im Generalgouvernement ein.
Wenn Eichmanns Version von dem Nisko-Abenteuer stimmt – und es gibt keinen Grund, ihm hierin nicht zu glauben –, dann muß er oder, was wahrscheinlicher ist, sein Vorgesetzter aus Prag und Wien, SS-Brigadeführer Franz Stahlecker, diese Entwicklung um mehrere Monate vorausgesehen haben. Eichmann hielt diesen Dr. Stahlecker, dessen akademischen Titel er niemals unerwähnt ließ, für einen vortrefflichen Mann mit guter Erziehung und großem Verstand, »… einer von jenen SS-Führern, … die auch frei waren vom Haßgedanken, die frei waren vom Chauvinimus jeder Art …«; in Wien habe er den jüdischen Funktionären stets die Hand gegeben. Anderthalb Jahre später, im Frühjahr 1941, wurde dieser gebildete Herr zum Kommandeur der Einsatzgruppe A ernannt und bewerkstelligte innerhalb eines Jahres, bis er im März 1942 an der Ostfront fiel, die Erschießung von 250 000 Juden; die Meldung darüber schickte er voller Stolz an Himmler persönlich, obwohl doch die Einsatzgruppen, die ja Polizeieinheiten waren, dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, also Heydrich, unterstanden. Aber soweit war es noch nicht. Damals, als im September 1939 die deutsche Wehrmacht noch mit der Besetzung Polens beschäftigt war, begannen Eichmann und Dr. Stahlecker »privat« darüber nachzudenken, wie der Sicherheitsdienst im Osten den ihm gebührenden Einfluß bekommen könnte. Zu diesem Zweck gedachten sie ein
»möglichst großes Territorium in Polen abzuzweigen und dieses Territorium zu einem autonomen Judenstaat [zu] erklären, zu einem Protektorat … Uns schwebte vor, das wäre die Lösung überhaupt«.
Und prompt begaben sie sich, ohne irgendwelche Befehle, ans Auskundschaften. Sie fuhren ins Gebiet von Radom am San, unweit der russischen Demarkationslinie:
»Wir kamen dort hin, sahen eben ein riesiges Gebiet, den San, also Fluß, Dörfer, Märkte, kleine Städtchen – und wir sagten uns, das sei das Gegebene und dann sagten wir uns, warum soll man nicht einmal Polen umsiedeln, wo ja sowieso so viel umgesiedelt wird.«
Hier hatten sie für die Juden, was sie brauchten: »festen Grund und Boden unter ihre Füße« – zumindest eine akzeptable provisorische Lösung.
Zunächst schien alles glattzugehen. Sie gingen zu Heydrich, und Heydrich war einverstanden und sagte, sie sollten so weitermachen. Zufälligerweise – allerdings hatte Eichmann das in Jerusalem vollkommen vergessen – paßte nämlich ihr Plan vortrefflich zu Heydrichs damaligem Generalrezept für die »Lösung der Judenfrage«. Am 21. September 1939 hatte er eine Konferenz aller Amtsleiter des RSHA und der Kommandeure der Einsatzgruppen (die damals schon in Polen operierten) einberufen, auf der allgemeine Richtlinien für die unmittelbare Zukunft ausgegeben wurden: Konzentration der Juden in Gettos, Einsetzung von Judenräten und Deportation aller Juden ins Generalgouvernement. Eichmann war bei dieser Konferenz über die Einrichtung einer Reichszentrale für jüdische Auswanderung dabei gewesen, das wurde im Prozeß durch das Konferenzprotokoll bewiesen, das vom Büro 06 der israelischen Polizei in den National Archives in Washington entdeckt worden war. Also lief die Initiative Eichmanns – oder auch Stahleckers – lediglich auf eine Konkretisierung von Heydrichs Anweisungen hinaus. Und nun wurden Tausende von Menschen, vor allem aus Österreich, Hals über Kopf in diese gottverlassene Gegend deportiert, wo, wie ihnen ein SS-Offizier, Erich Rajakowitsch, der später die holländische Judendeportation leitete, erläuterte, daß
»der Führer den Juden eine neue Heimat zugesagt [hat]. Es gibt keine Wohnungen und es gibt keine Häuser. Wenn ihr bauen werdet, werdet ihr ein Dach über dem Kopf
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