Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Aktionen gegen das mittel- und westeuropäische Judentum herrschte. Zwar waren auch damals verschiedene Behörden im Reich und in den besetzten Gebieten nach Kräften bemüht, »den Gegner Judentum« zu beseitigen, doch gab es kein einheitliches Vorgehen; es sah nachgerade so aus, als hätte sich jede Dienststelle mit stillschweigender Genehmigung von oben an ihre eigene »Lösung begeben, welche sie dann nach Kräften gegen die »Lösungen« von Rivalen durchzuboxen suchte. Eichmanns »Lösung« war ein Polizeistaat, und dafür brauchte er ein »größeres Territorium«, weil, wie er Heydrich nun »zum soundsovielten Male« erklärte, »das ganze Problem in der Heimatlosigkeit dieses Volkes läge«. Doch all seine »Bemühungen scheiterten am Unverständnis der in Frage kommenden Geister« und den nicht enden wollenden Rivalitäten, Streitigkeiten, Zänkereien zwischen den beteiligten Dienststellen, von denen jede immer alles an sich reißen wollte. Und dann war es auf einmal zu spät, der Krieg gegen Rußland »schlug plötzlich ein, wie ein Donnerschlag«. Das war das Ende aller »Träume«. Jetzt konnte selbst er nicht mehr gut behaupten, »beiden Seiten, der jüdischen wie nichtjüdischen Richtung zu dienen«, nun war Schluß mit dem Gerede von den »wirklichen Lösungsmöglichkeiten, tragbar für beide Seiten«. Schluß aber auch, wie er in den in Argentinien geschriebenen Memoiren ausdrücklich betont, mit der
»Epoche, wo für die Behandlung der einzelnen Juden Gesetze, Verordnungen und Erlasse die einzige Grundlage waren, nach denen erkannt wurde«.
Außerdem war es Eichmanns Meinung nach auch das Ende seiner Karriere.
Das klang zwar in Jerusalem angesichts seines »Ruhms« verrückt, enthielt aber zweifellos einen richtigen Kern. Denn seine Dienststelle, die bislang die entscheidende Instanz gewesen war, wurde nun
»was das Kapitel ›Endlösung der Judenfrage‹ angeht, in die zweite Linie versetzt, denn das sich nun anbahnende wurde in anderen Einheiten und von einem anderen Hauptamt innerhalb des Bereiches des ehemaligen Reichsführers SS und des Chefs des Sicherheitsdienstes verhandelt«.
Die »anderen Einheiten« waren die Einsatzgruppen, die im Osten der Front auf dem Fuße folgten und speziell für Massaker an der einheimischen Zivilbevölkerung und besonders für die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung eingesetzt wurden. Bei dem »anderen Hauptamt« handelte es sich um das WVHA unter Oswald Pohl, an den sich Eichmann zu wenden hatte, um den endgültigen Bestimmungsort jedes einzelnen Judentransports zu erfahren. Dieser wurde berechnet je nach »Aufnahmekapazität« der einzelnen Tötungsanlagen und auch je nachdem, wieviel Anträge auf Sklavenarbeiter von selten der zahlreichen Industrieunternehmen vorlagen, denen es vorteilhaft erschienen war, in der Nachbarschaft der Todeslager Zweigstellen ihrer Werke einzurichten. (Abgesehen von den nicht allzu bedeutenden SS-eigenen Unternehmungen, hatten immerhin so berühmte deutsche Firmen wie die IG Farben, die Krupp-Werke und die Siemens-Schuckertwerke in Auschwitz sowie in der Nähe der Lubliner Todeslager Fabrikanlagen gebaut. Die Zusammenarbeit zwischen der SS und den Firmen war ausgezeichnet; Höß berichtete in seinen Aussagen von den besten gesellschaftlichen Beziehungen zu den Vertretern der IG Farben-Werke. Die Arbeitsbedingungen waren so schlecht, daß die Absicht, durch Arbeit zu töten, klar zu erkennen war; nach Hilberg sind mindestens 25 000 der ungefähr 35 000 Juden, die für eine der IG Farben-Anlagen arbeiteten, gestorben.) Für Eichmann war angesichts dieser Entwicklung die Hauptsache, daß Evakuierung und Deportation nicht mehr als Endphasen der »Lösung« galten. Seine Arbeit war nur noch Mittel zum Zweck, die »Lösung« selbst war nicht mehr in seiner Hand. Er hatte also allen Grund, sehr »erbittert und enttäuscht« zu sein, als das Madagaskar-Projekt zu den Akten gelegt wurde; als einzigen Trost konnte er sich an seine Beförderung zum Obersturmbannführer halten, die im Oktober 1941 erfolgte.
Den letzten Versuch, aus eigener Initiative etwas zu unternehmen, hatte Eichmann seiner Erinnerung nach im September 1941 gemacht, also drei Monate nach Beginn des Rußlandkrieges. Das war unmittelbar nach der Ernennung Heydrichs zum Protektor von Böhmen und Mähren gewesen. Um diese Gelegenheit zu feiern, hatte Heydrich, der weiterhin Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes blieb, eine Pressekonferenz einberufen
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