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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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unter den Bedingungen der »Endlösung« enthalten war
    »Der Judenrat, wie er sich zusammensetzte und … wie sie sich verteilten und welche Geschäfts-, sagen wir mal, Sektoren die einzelnen übernahmen, das war dem Judenrat überlassen. Aber die Leitung, wer der Leiter ist, das selbstverständlich [hing von uns ab].
    Aber wie gesagt … es ist nicht in Form einer, sagen wir mal, diktatorischen Entscheidung vorgegangen worden, sondern man hat das mit diesen Funktionären, mit denen man dauernd zu tun hatte, hatte man das mehr oder weniger, wie soll ich sagen, wie eine – ein Spiel mit rohen Eiern behandelt, um es mal so auszudrücken … es wurde also nicht angeordnet, aus dem ganz einfachen Grund, Herr Hauptmann, wenn bei den Spitzenfunktionären irgend etwas, sagen wir mal gesagt würde, so in der Form – du mußt, du hast, usw. usw. – dann ist ja damit die Sache – der Sache auch nicht gedient. Denn wenn es nicht – nicht –, wenn der Betreffende es nicht – nicht gern macht, dann leidet ja die gesamte Arbeit darunter … es wurde alles irgendwie versucht mundgerecht zu machen.«
    Zweifellos haben sie »alles versucht« – das Problem ist nur, wie es ihnen hat gelingen können.
    Und so entstand in Herrn Hausners »Gesamtbild« gerade an dieser bedenklichsten Stelle ein leerer Fleck dadurch, daß kein Zeuge über die Zusammenarbeit zwischen nationalsozialistischen und jüdischen Behörden vernommen wurde, daß also kein Anlaß bestand, die schwerwiegende Frage zu stellen: Warum habt ihr die Mitarbeit an der Zerstörung eures eigenen Volkes und letztlich an eurem eigenen Untergang nicht verweigert? Unter den Zeugen war nur ein einziger, der seinerzeit prominentes Mitglied eines Judenrats gewesen war: Pinchas Freudiger alias Baron Philipp von Freudiger aus Budapest, und nicht von ungefähr kam es während seiner Vernehmung zu dem einzigen schwerwiegenden Zwischenfall im Publikum: die Menschen schrien auf ungarisch und jiddisch auf den Zeugen ein, und das Gericht mußte die Sitzung unterbrechen. Freudiger, ein orthodoxer Jude, war heftig erregt: »Hier gibt es Leute, die sagen, daß niemand ihnen geraten hat zu fliehen. Aber von den Leuten, die geflohen sind, wurden 50 Prozent wieder eingefangen und getötet!« – dagegen stehen 99 Prozent Todesopfer unter denen, die nicht zu fliehen versuchten. »Wohin hätten sie denn gehen können? Wohin hätten sie fliehen können?« – er selbst aber war nach Rumänien geflohen, denn er war reich, und Wisliceny hatte ihm geholfen. »Was konnten wir denn tun? Was sollten wir denn tun?« Die einzige Antwort darauf kam von der Richterbank: Richter Landau sagte: »Ich glaube nicht, daß die Frage damit beantwortet ist« – jene Frage, die nicht vom Gericht, sondern von der Galerie gestellt worden war.
    Zweimal berührten die Richter die Frage der Kooperation. Richter Yitzak Raveh holte aus einem der Widerstandszeugen das Zugeständnis heraus, daß die »Gettopolizei ein Instrument in der Hand von Mördern« gewesen sei und daß es eine »Politik der Zusammenarbeit des Judenrats mit den Nazis« gegeben habe; und aus Richter Halevis Kreuzverhör mit Eichmann ergab sich, daß die Nazis jene Zusammenarbeit als die eigentliche Grundlage ihrer Judenpolitik betrachtet hatten. Doch die Frage, die der Ankläger regelmäßig an alle Zeugen, mit Ausnahme der Widerstandskämpfer, richtete, die so einleuchtend klang, wenn man den tatsächlichen Hintergrund des Prozesses nicht kannte, die stereotype Frage »Warum habt ihr nicht rebelliert?«, diente in Wirklichkeit der Vernebelung der Frage, die nicht gestellt wurde. Und so geschah es, daß alle Antworten auf die unbeantwortbare Frage, die Hausner seinen Zeugen vorlegte, wesentlich weniger ans Licht brachten als die »Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit«. Zwar war das jüdische Volk als Ganzes nicht organisiert; Juden hatten kein Territorium, keinen Staat, keine Armee und daher in der Stunde ihrer größten Not keine Exilregierung, die sie bei den Alliierten hätte vertreten können (die Jewish Agency for Palestine unter dem Vorsitz von Dr. Weizmann war bestenfalls ein armseliger Ersatz); sie hatten keine versteckten Waffenvorräte, keine militärisch ausgebildete Jugend. Dies aber heißt nicht, daß das jüdische Volk gänzlich unorganisiert und führerlos gewesen wäre. Außer in der Sowjetunion gab es überall die Gemeinden mit ihrem Presse- und Nachrichtenwesen, das von den Nazis umgeschaltet und

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