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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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begonnen, seinen Top-Ingenieur in der Firma akribisch zu beobachten, doch an seinem alltäglichen Verhalten war nichts Verdächtiges festzustellen gewesen. Trotzdem hatte der Unternehmer weiterhin ein ungutes Gefühl gehabt. Etwas stimmte mit dem Mann nicht, da war er sich mittlerweile sicher gewesen. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und hatte ihn als Kundschafter engagiert.
    Am Anfang erschien Rösener die Sache eine Nummer zu groß. Nachdem der Auftraggeber aber ein erstes Treffen arrangiert hatte, merkte der ehemalige Stasimann sofort, dass er ein solches Angebot vielleicht nie wieder bekommen würde. Wenn er den Auftrag nicht versieben würde, müsste er sich in Zukunft nicht mehr mit diesen grauenvollen Scheidungsfällen herumschlagen. Dieser Auftrag würde ihm die Türen für die wirklich lukrativen Angebote öffnen.
    »Trauen Sie sich die Sache zu?«, hatte der Firmenchef am Ende des Gesprächs gefragt. »Wenn Sie Gewissensbisse haben, dann sagen Sie das gleich jetzt!«
    »Gewissensbisse leisten sich nur diejenigen, die schon alles haben«, hatte er geantwortet. Im Westen hatte er noch keinen Menschen mit wirklich ernsthaften Gewissensbissen getroffen und für ihn waren sie seit seiner Stasizeit sowieso ein Fremdwort.
     
    Seit knapp einer Stunde liegt er bereits vor der Villa des Ingenieurs auf der Lauer und verkneift sich das Pinkeln. Als er gerade den Entschluss gefasst hat, seinen Posten für einen kurzen Moment zu verlassen, öffnet sich die Haustür. Der Observierte stürmt heraus, steigt in seinen BMW und braust davon. Rösener ist ihm sofort auf den Fersen, obwohl der Verfolgte sich nicht im Mindesten an die Geschwindigkeitsbeschränkung hält.
    Der fährt wie eine gesenkte Sau, denkt der Exstasi genervt. Andererseits gar nicht so schlecht. Wer so fährt, wird sich kaum die Mühe machen, aufmerksam im Rückspiegel zu verfolgen, was hinter ihm passiert.
    Die rasende Fahrt geht die Friedrichstraße entlang, Richtung Mildstedt. Rösener hält auf der geraden Strecke genügend Abstand und lässt sich von seinem Peilsender führen.
    In seinem Kopf beginnt gleichzeitig eine andere Verfolgungsjagd, eine, die er noch kurz vor dem Mauerfall in der DDR erlebt hat. Da war er mit dem Peilsender einem Klassenfeind auf den Fersen gewesen. Monatelang hatten sie den Studenten aus dem Westen im Visier gehabt. Bei der Fotoauswertung war er dahintergekommen, dass der junge Westler bei seinen Einkäufen im Intershop der Raststätte in regelmäßigen Abständen Kontakte zu unterschiedlichen Volksgenossen aufgenommen hatte. Rösener war daraufhin mit dem Richtmikrofon zu seinem Schatten geworden. Dabei hatte sich sein Verdacht auf systematischen Menschenschmuggel erhärtet. Der Anfang vom Ende. Während der nächsten Einreise war dem Studenten bei der Kontrolle ein Peilsender angebracht worden und Rösener hatte ihn über die ganze Transitstrecke nicht mehr aus den Augen gelassen. Er hatte dann, als an einer einsamen Stelle eine Person zugestiegen war, den geheimen Transfer aus sicherer Entfernung fotografiert. Die Volkspolizei hatte den Wagen danach kurz vor der Grenze gestoppt und konnte bei dem Studenten eine Summe von 20.000 Westmark sicherstellen.
    Rösener hatte es sich nicht nehmen lassen, höchstpersönlich die Kofferraumhaube aufzureißen. In dem Hohlraum waren eine zusammengekauerte Mutter und ein Kleinkind gewesen, das von der Frau an ihre Brust gepresst worden war. Als sie Rösener gesehen hatte, strahlten ihre Augen vor Glück. Die Republikflüchtige war offensichtlich der Meinung gewesen, er wäre einer der Schleuser, da er natürlich Zivilkleidung getragen hatte. Nach und nach war der Frau langsam klar geworden, dass sie nicht im Westen war und hatte daraufhin nur noch Rotz und Wasser geheult. Wenig später war sie in sich zusammengesackt.
    Den Anblick dieser Frau, dieses armen Häufchen Elends, hat er bis heute nicht vergessen. Rösener kann sich noch genau daran erinnern, wie er die am ganzen Körper zitternde Frau aus dem Kofferraum gezogen hatte und, als er ihre Panik bemerkte, ein unbändiges Kribbeln in seinen Körper gespürt hatte. Ein unerhörtes Gefühl von Macht war damals in ihm aufgestiegen, ein Gefühl, das ihn danach nie mehr losgelassen hatte.
    »Sie sind verhaftet!«, sagt eine Stimme, während er die Szene vor seinem inneren Auge sieht. »Sie sind verhaftet! Sie sind verhaftet.«
    Mit heimlichem Genuss hatte er diese Worte gesprochen und mit demselben Genuss mit angesehen, wie

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