Eidernebel
Konsequenzen angedroht, wenn ich heute Abend nicht mitkomme.«
»Das war nur ein ernst gemeinter Ratschlag, Herr Hauptkommissar. Du lebst jetzt bald fünf Monate in Witzwort. Da musst du dich mal zeigen und hin und wieder etwas mitmachen. Dat gehöört sik so, opn Dörpen! Ich möchte nicht wegen dir in den Ruf kommen, mich würden die Witzworter nicht interessieren. Es war schwer genug, hier überhaupt akzeptiert zu werden.«
»Siehste, ich wusste schon, warum ich so lange gezögert habe, bei dir einzuziehen, meine Liebe. Demnächst darf ich für dich noch auf dem Schützenfest antreten.«
»Na ja, das wäre doch auch mal ganz nett. Warum solltest du nicht Schützenkönig werden? Ein Kommissar muss doch schießen können, oder?«
»Anna, ich bitte dich!«
»Jan Swensen!«, Annas Stimme wird deutlich lauter und wenn sie seinen vollen Namen ausspricht, das weiß er aus Erfahrung, bedeutet das nichts Gutes. »Jedes Jahr am 21. Februar findet an der gesamten Nordküste das Biikebrennen statt. Das ist ein großes Fest, zu dem sich alle Bewohner der Umgebung zusammenfinden. Und da geht man hin, weil jeder zeigt, dass er zur Dorfgemeinschaft dazugehört. Und du, Jan Swensen, gehörst jetzt auch dazu. Also gewöhn dich möglichst schnell daran, du lebst nicht mehr in Husum, sondern in Witzwort. Ist das angekommen?«
»Ist ja gut, ist ja gut! Nun komm wieder runter, Anna!«
»Ich bin unten, mein Lieber. Du bist es, der von oben herunterschaut!«
»Lass uns gehen, sonst kommen wir noch zu spät«, lenkt Swensen ein und schaut zum Himmel hinauf. Ein Netz von Lichtpunkten spannt sich über den violettschwarzen Grund und die Mondhälfte dazwischen wirkt wie ausgeschnitten. Swensen und Anna sind nur kurz allein unterwegs. Von allen Seiten strömen Menschen herbei und alle zusammen marschieren auf den Ortsrand von Simonsberg zu, wo an der Badestelle Lundenbergsand das Heer der vermummten Gestalten zum Stehen kommt. Die meisten tragen Wachsfackeln in ihren Händen, auf denen durchbohrte Bierdeckel zum Tropfenschutz stecken. Ein Feuerwehrmann mit einem kleinen Propangasbrenner geht von einem Fackelträger zum nächsten und entzündet die Wachsstäbe. Bald leuchtet eine Lichterkette den Deich entlang. Mit Pauken und Trompeten führt der Spielmannszug der Feuerwehr, dessen uniformierte Männer mit klammen Fingern und blau gefrorenen Lippen tapfer Töne zu einer zackigen Melodie vereinen, die Fackelträger und die nicht Erleuchteten zu dem hoch aufgetürmten Stapel aus morschem Holz, vertrockneten Weihnachtsbäumen, Holzpaletten und brennbarem Strandgut. Mehrere Jugendliche warten vor Ort auf die heranwalzende Menschenmasse.
»Die Jungs haben den Biike-Platz abgesichert«, erklärt Anna, »haben hier bestimmt schon die gestrige Nacht ausgeharrt.«
»In dieser Eiseskälte?«, fragt Swensen, der das Treiben um sich herum mit misstrauischem Blick beobachtet. »Wozu soll das denn gut sein?«
»Die passen auf, dass die Biike nicht frühzeitig von rivalisierenden Jugendlichen aus den Nachbargemeinden angezündet wird. Das wäre die größte Blamage, die den Simonsbergern passieren könnte.«
In der Zwischenzeit hat sich jemand vor dem riesigen Holzstoß aufgebaut, auf dessen Spitze ein menschenähnliches Gebilde aus Stroh und Stofffetzen thront.
»Liebe Simonsberger, Uelvesbüller, Witzworter, liebe Gäste, die ihr von weit her angereist seid«, beginnt er seine Rede. »Morgen ist Piddersdai, unser St. Petritag, ein historischer Tag. Früher wurden an diesem Tag von den friesischen Landvögten neue Gesetze eingeführt und Streitigkeiten geschlichtet. Heute treffen wir uns an diesem Tag, um Spaß zu haben und das eiskalte Regiment des Winters zu beenden. Deshalb wird es jetzt höchste Zeit, dass wir dem Petermännchen Feuer unter dem Hintern machen! Ich danke in diesem Zusammenhang besonders unseren regen Landfrauen, die auch dieses Jahr wieder den wichtigste Teil der Biike angefertigt haben.«
»Petermännchen?«, Swensens Stimme senkt sich zu einem Flüstern. »Meint der die Strohpuppe da oben?«
»Soweit ich weiß, soll das ein Symbol für den Papst und das Christentum sein. Beides war vor langer Zeit für die Bauern hierzulande ein rotes Tuch. Du musst davon ausgehen, dass der Brauch noch aus einer heidnischen Ära stammt und wahrscheinlich was mit den Germanengöttern Odin und Wotan zu tun hatte. Es geht um das Ausbrennen des Winters, um Fruchtbarkeit, Heilung von Krankheiten und die Vertreibung des Bösen. Biike heißt
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