Eidernebel
aufgenommen, sie kann ihre Spuren riechen und ihren Wegen folgen. Der Mann hat sie aufgespürt, wartet draußen, wenn sie das Haus verlässt. Sie kann es spüren. Er steigt zu ihr in den Bus, urplötzlich sitzt er neben ihr auf der Sitzbank und ist sofort wieder verschwunden, sobald sie ihn ansehen will.
Lisa Blau erwacht und glaubt langsam, verrückt zu werden. Es ist ein dumpfes Gefühl, es krallt sich an ihren Tag, ist überall dabei, unter der Dusche, beim Frühstück und Einkaufen, verfolgt sie, als sie in der Dämmerung am späten Nachmittag den Bus in die Innenstadt nimmt. An der Haltestelle Schwedenkai steigt sie aus. Im Hafen strahlt die Fähre der Stenaline nach Göteborg im Lichterglanz, verschluckt wie ein Riesenmaul Pkw um Pkw. Lisa Blau schlendert zur Hafenstraße hinüber und biegt kurze Zeit später in die Andreas-Gayk-Straße. Die Neonschrift ›Dancin’ Lounge‹ über der Tür ihrer Tanzschule wirft rotes Licht durch den schmalen Durchgang zum Hof bis auf die Straße. Sie hat ihn fast erreicht, als die nackte Angst ihr in den Nacken springt. Panisch will sie den Kopf drehen, da bekommt sie einen heftigen Stoß gegen ihre Schulter. Eine hochgewachsene Schattengestalt eilt an ihr vorbei. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals.
War er das? Der Mann von Reimersbude?
Nach wenigen Schrecksekunden beginnt sie zu rennen, fliegt durch den dunklen Hof auf ihre Tanzschule zu, reißt die Tür auf und schlägt sie mit einem lauten Knall hinter sich zu. Die Paare auf der Tanzfläche erstarren in ihren Bewegungen und schauen erstaunt zu ihr in den Vorraum herüber. Sie schnappt nach Luft, steht stocksteif auf einem Fleck.
»Wir machen weiter!«, ruft Harald Lehmann nebenan und klatscht laut in die Hände. »Aufstellung zum Foxtrott, bitte!«
Erleichtert sieht Lisa Blau, wie die Paare sich zu drehen beginnen, ihr abwechselnd den Rücken zukehren.
»Achtung meine Damen! Sie fangen mit dem rechten Fuß an. Aufgepasst! Der rechte Fuß geht nach hinten.«
Ihr Partner steht vor der Gruppe und demonstriert den Schritt mehrere Male.
»Die Herren beginnen mit dem linken. Linker Fuß nach vorn. Zwei langsame Schritte zurück. Zwei schnelle zur Seite. Richtig, so geht’s. Slow. Slow. Quick. Quick. Und auf Anfang bitte! Slow. Slow. Quick. Quick. Achten Sie auf den Rhythmus meine Damen! Die Herren nicht mit dem Oberkörper wippen! Slow. Slow. Quick. Quick.
Der Abba-Titel ›Thank you for the music‹, der jetzt den Viervierteltakt der Tanzpaare vorgibt, übt eine beruhigende Wirkung auf Lisa Blau aus. Sie schließt die Durchgangstür zum Tanzsaal, nimmt in einem der bequemen Sessel Platz und versucht, die verbleibende Viertelstunde, bis der Unterricht von Harald beendet ist, den Schock von eben aus Mark und Knochen zu bekommen. Unbeweglich und steif lässt sie die Minuten verstreichen und grübelt über ihren Zustand nach. Manchmal hat sie das Gefühl, dass ihr Körper nach der Transplantation etwas von seiner Tanzleidenschaft eingebüßt hat. Ihr altes Feuer brennt auf Sparflamme, ihre Drehungen sind weniger elegant, die Wirbelsäule unbeweglich wie ein Brett. Sie hat sich schon gefragt, ob ihre Herzspenderin den Gesellschaftstanz nicht ausstehen konnte. Irgendwann möchte sie die Eltern von Marion einmal danach fragen. Als die Tür aufgeht und Harald Lehmann hereinkommt, zuckt sie unwillkürlich zusammen.
»Ich bin durch!«, verkündet er knapp. »Deine Leute warten schon drinnen. Ich hau ab, wir sehen uns morgen, Tschau Lisa!«
Ein Impuls drängt die Tanzlehrerin, Harald zu bitten, noch dazubleiben, damit sie nachher nicht allein an der Bushaltestelle stehen muss. Sie kann sich aber nicht entschließen, es wirklich auszusprechen.
Im Tanzsaal schaut sie flüchtig in den Spiegel, atmet noch einmal tief durch und achtet darauf, möglichst graziös vor die Anfängergruppe zu treten, die heute das erste Mal zum Unterricht gekommen ist.
»Guten Abend, meine Damen und Herren«, sagt sie routinemäßig, »halten wir uns nicht mit langen Vorreden auf. Nur ein paar Worte vorab. Der klassische Gesellschaftstanz setzt sich aus folgenden Tänzen zusammen: Dem Tango, der Rumba, Foxtrott, Swing, dem langsamen Walzer, Merengue und natürlich dem Wiener Walzer. Beim Tanzen geht es hauptsächlich um Romantik und Liebe. Ziel ist es, dass sich zwei Körper im Einklang mit der Musik bewegen können. Deswegen beginnen wir mit einer ganz einfachen Übung. Damen und Herren stellen sich gegenüber auf.«
Die Worte verhallen, ohne dass
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