Eidernebel
Heizungsluft in der Empfangshalle ist stickig. Ihr Herz beginnt zu klopfen. Auf der Fahrt im Fahrstuhl bildet sich ein Kloß in ihrem Hals. Internistische Station dritter Stock. Sie versucht ihn hinunterzuschlucken, doch der Kloß hat sich festgesetzt. Die Schwester hinter dem Eichentresen der Kardiologie strahlt über das ganze Gesicht, als sie die mittelgroße Frau kommen sieht.
»Frau Blau, wie geht es Ihnen?«
»Wie man sich fühlt vor der jährlichen Nachuntersuchung«, sagt sie trocken und fährt sich nervös durch ihre blonden Strubbelhaare.
»Das ist reine Routine, Frau Blau. Das macht Ihnen doch nichts mehr aus. Sie sind fit und sehen blendend aus!«
Sie findet gar nicht, dass sie blendend aussieht. Der Blick in den Spiegel, bevor sie aus dem Haus gegangen war, hatte etwas anders gezeigt. Die Patientin lässt sich von der Frau in Weiß in den Behandlungsraum führen. Die Zeit pumpt gelassen wie ihr Herz, lässt das Leben immer wieder im Kreis laufen, während außerhalb des Körpers der Startschuss fällt, die rechte Leistengegend rasiert wird, Blutentnahme, EKG. Ein Einstich, die Braunüle ist platziert. Sie wird in die Warteschleife vor das Katheter-Labor geschoben. Der Raum, ein hängender Garten der High-End-Technologie, voll mit Geräten, Monitoren, Displays, Kabeln und Schläuchen. Ein kurzer Schwebezustand auf dem schmalen OP-Tisch. Eiskaltes Desinfektionsmittel fließt über die Hautporen und eine Gänsehaut schnellt den Körper hinauf. Das Elektrolyt-Gel unter den Pflastern ist kühl und glitschig. Sie wird mit den EKG-Leitungen verkabelt und unter ein weißes Leinentuch gebettet. Über ihrem Brustkorb das fahrbare Röntgengerät. Ihr Blick fällt auf zwei Monitore, rechts die EKG-Daten, links leuchtet ihr Herz im großformatigen Schwarz-Weiß, Schlag auf Schlag, dehnt sich aus und zieht sich zusammen.
»Endlich mal wieder ein vertrautes Gesicht. Same procedure as every year?«, empfängt sie scherzend die Stimme des Arztes, bevor er die Arterie in der Leiste punktiert.
»Ist der Katheter schon drin?«, fragt sie. Im selben Moment beginnt ihr Herz zu glühen, die Hitzewelle schlägt über ihrem Kopf zusammen und flutet in den Körper zurück. Der bekannte Kontrastmittelschub. Auf dem Bildschirm schiebt sich der dünne Katheterdraht durch ihre Ader. Das Bypass-Geflecht erscheint ihr wie die Wurzeln ihres Überlebens.
»Hände hinter den Kopf. Jetzt den Kopf bitte nach rechts drehen. Bitte nicht atmen.«
Nicht atmen!
Nicht atmen!
Die fein gezeichneten Lippen formen dicht vor ihrem Gesicht mit sanften Bewegungen die eindringlichen Worte.
Nicht atmen!
Nicht atmen.
Die porige Haut seines kalten Gesichts ist blass wie der Nachthimmel vor dem nahenden Vollmond. Die Sommersprossen gleichen einem Sternenhimmel, durch den der stechende Blick sie in den Bann schlägt. Mordlüsterne Schlangenaugen, die niemanden entkommen lassen.
Nicht atmen!
Sie glaubt zu ersticken. Reißt ihre Augen weit auf, atmet in tiefen Atemzügen das undurchdringliche Schwarz ein, das sie umgibt. Das Leben geht weiter, sie ist dem Tagtraum und ihm erneut entkommen. Das neue Herz schlägt, als wäre nichts passiert.
Ein paar Tage später ist der Befund da: Die Angiografie des rechten Koronarsystems ergibt einen weitgehend unauffälligen Befund. Im Gegensatz dazu zeigt sich im intravaskulären Ultraschall eine massive, konzentrische Intimahyperplasie in den korrespondierenden Schnitten des Ramus interventricularis anterior. Das angiografisch erhaltene Gefäßvolumen ist auf kompensatorische Gefäßerweiterung zurückzuführen.
Das Geschriebene versetzt sie in helle Panik, sein elendes Kauderwelsch will ihr unter die Haut kriechen, bis sie sich überwindet und es in ihre Sprachenwelt übersetzt. Ab da machte es nur noch Angst.
Die medizinische Darstellung der Herzkranzgefäße ergibt, dass alles gut ist. Der Ultraschall weist in den beiden Ästen der rechten Herzkranzarterie eine traumatische Reaktion durch die Transplantation auf, die sich in einer ausgleichenden Gefäßerweiterung deutlich macht.
Für ihre Angst gibt es keine Übersetzung. Sie wird unerwartet des Nachts lebendig, geistert durch ihre Träume und vermischt sich mit dem Schrecken ihrer anderen Träume von dem unheimlichen Mann, der im Schlaf bei Reimersbude auf sie lauert. Sein Gesicht, das aus dem Nebel auftaucht, die gekräuselten blonden Haare, ohne Scheitel und nach hinten gekämmt. Die schmale, nach außen gewölbte Nase hat Witterung
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