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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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jemand sich in Bewegung setzt. Die Neulinge verharren, als hätten alle ein Lineal verschluckt. Lisa Blau merkt, dass sie schneller als sonst ungeduldig wird. Sie kürzt die übliche Anfangsverlegenheit ab, indem sie durch die Reihe geht und die Paare eigenmächtig zusammenstellt.
    »Wir werden uns jetzt bewegen lernen, einfach zusammen vorwärts gehen. Sie wissen doch wie man geht, oder? Bitte …! Und jetzt zurück. Nein, nein, nein. Der Mann führt, die Dame lässt sich führen.«
    Hinter den Worten lauert die Angst, die genau weiß, dass der Unterricht in Kürze vorbei sein wird. Und draußen in der Dunkelheit ist die Angst in ihrem Element. Da wird die Bedrohung körperlos, ist flach wie ein Schatten, passt in jede Nische und kann sich unendlich weit in die Länge strecken.
     
    Ein riesiger Nachtfalter zerschellt an der Windschutzscheibe. Lisa Blau schreckt auf, starrt auf den schmierigen Flecken Tod. Sie sitzt in der ersten Bank, rechts vom Busfahrer, weiß nicht mehr, wie sie es aus der Tanzschule bis hierher geschafft hat. Die Angst steht an jeder Haltestelle, doch sie steigt nirgends zu. Kurz vor dem Ziel poltert der Bus über eine kurze Strecke mit Pflastersteinen. Der Rhythmus der Fahrgeräusche klingt jetzt wie der Herzschlag, singt ihr den Blues: ›Well now, baby meet me in the bottom, bring me my running shoes.‹
    Sofort, nachdem die Bustür sich hinter ihr geschlossen hat beginnt sie zu laufen. Ihr Herz gibt den Blues vor, über die 300-Meter-Strecke bis zur Haustür. In der Manteltasche fingert sie nach ihrem Schlüssel, hat ihn parat, als sie ankommt. Eine Drehung im Schloss und der Hausflur empfängt sie mit seiner Sicherheit. Ein Blick durch die Glasscheibe zurück lässt ihr fast das Blut in den Adern gefrieren. Unter der Bogenlampe steht eine Gestalt und schaut zu ihr herüber. Sie flüchtet in ihre Wohnung, schließt zweimal herum und lehnt sich erschöpft an das Holz.
    Lisa Blau, du entwickelst einen Verfolgungswahn!
    Sie greift zum Telefon, wählt die Nummer von Maria Teske.
    »Teske!«
    »Maria, er ist hier!«
    »Bist du es Lisa?«
    »Ja! Du musst mir helfen! Er ist hier. Der Mann von Reimersbude. Ich habe ihn gesehen. Er ist hier in Kiel, ich bin mir ganz sicher!«
     
    *
     
    Nichterfolg ist ein Wackerstein, der einem am Hals hängt, denkt Swensen, als er in der Frühe die Husumer Polizeiinspektion betritt und langsam die Treppe in das obere Stockwerk hinaufsteigt. Er empfindet die Mordfälle mittlerweile als extrem belastend, die lange Arbeit ohne einen Erfolg drückt aufs Gemüt. Auf dem Flur zur Teeküche trifft er Susan Biehl, die gerade eine Thermoskanne Kaffee in den Konferenzraum tragen will. Ihr strahlendes Lächeln prallt auf einen eher missmutigen Hauptkommissar.
    »Moin, Moin, Jan!«, grüßt sie ohne sich abschrecken zu lassen. »Gehst du zu deiner geheimen Schachtel, um dir deinen Stoff zu brauen?«
    »Was ist passiert, Susan? Seit Wochen bist du total aufgekratzt«, stellt Swensen fest und lässt sich von ihrer guten Laune anstecken.
    »Marcus Bender kommt am Wochenende«, schwärmt Susan mit Säuselstimme.
    »Verstehe, im September war das Poppenspäler-Festival.«
    »Ja, es lag zwar eine gedrückte Atmosphäre über allem, denn man wurde immer wieder an die schrecklichen Ereignisse vom Vorjahr erinnert. Aber trotzdem war das Festival ein Erfolg. Markus hatte auch ein neues Stück dabei und ich durfte ihn betreuen.«
    »Wieder was mit Quantenphysik?«
    »Ja, nur noch einen Hauch verrückter als im letzten Jahr. Diesmal ließ er seine Puppen nach der Weltformel suchen. Das Stück hieß: Wer früher nach Nymphen fischte, sucht heute nach Superstrings.«
    »Superstrings?«
    »Ja, das sind die kleinsten Teilchen, aus denen unsere Welt zusammengesetzt sein soll, winzige tanzende Fäden, die Gummibändern ähneln. Und das Verrückteste ist, die Superstringtheorie braucht 26 Dimensionen, damit sie funktioniert.«
    »Ich fühle mich schon mit drei Dimensionen überfordert. Mit solch einer profanen Zahl können Verliebte sich natürlich nicht zufriedengeben, oder?«
    »Ich … ich muss den Kaffee reinbringen«, säuselt Susan und eine leichte Röte erfasst ihre Wangen.
    Swensen grinst breit, zwinkert ihr zu und verschwindet wortlos in der Küchenzeile. Im Konferenzraum sitzen bereits alle vor ihren dampfenden Kaffeebechern und warten, als der Hauptkommissar fünf Minuten später mit seiner Kanne Tee eintrifft. Colditz steht vor der Pinnwand mit den Fotos der ermordeten Frauen,

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