Eidernebel
Männer aussteigen können, stürzt eine hagere, hochgewachsene Person aus dem Nichts auf den Wagen zu. Swensen kann im Dunkeln nur erkennen, dass es ein Mann ist, der eine Brille mit dicken Gläsern trägt. Kaum sind die beiden Männer ausgestiegen, sprudeln die Worte aus dem Mann mit der Brille heraus. Völlig außer sich legt er mitten in seinen Sätzen immer wieder eine Hand auf sein Herz.
»Ich bin nach der Arbeit erst nach Hause, nach St. Peter, das war kurz vor … nein …, doch, es war schon nach acht, äh … 20 Uhr, bin ich nach Hause gekommen. Und da dachte ich, ich hab mir überlegt, doch noch zum Üben hier herzufahren, für Sonntag. Also, üben in der Kirche, die Orgel …, auf der Orgel üben …«
»Ludwig«, unterbricht Pastor Claßen, »bleib ganz ruhig! Der Herr ist bei dir!«
»Was ist in der Kirche passiert?«, fragt Swensen leise.
»Das Mädchen ist tot … in der Bank … vorn vor dem Altar.«
»Sind Sie ganz sicher, Herr …?«
»Das ist Herr Thiel, Ludwig Thiel. Er ist unser Organist«, ergänzt Pastor Claßen, während der Hagere dazu nickt. »Und das ist Kommissar Swensen von der Husumer Polizei. Er war zufällig beim Biikebrennen.«
»Haben Sie die Tote angefasst, Herr Thiel?«, fragt der Hauptkommissar weiter, »oder haben Sie drinnen etwas verändert?«
Der Hagere schüttelt wild mit dem Kopf. »Das konnte ich … Das war so schrecklich, ich konnte … konnte kaum hinsehen.«
»Kennen Sie das Mädchen?«
»Ich … ich glaube nicht. Aber wie gesagt, ich hab kaum hingesehen.«
»Sie bleiben bitte beide hier«, ermahnt der Kriminalist, »es dürfen keine Spuren verwischt werden. Ich schaue mir die Sache einmal an.«
Er geht vorsichtig den Plattenweg hinauf. Seine Augen haben sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt und der diffuse Lichtschein aus den Fenstern reicht aus, um einigermaßen den Überblick zu wahren. Die Holztür im Rundbogenportal steht offen, sodass er sie problemlos mit dem Ellenbogen aufschieben kann. Swensen verschlägt es einen Moment den Atem, so unerwartet trifft ihn der Anblick des Kirchenraums. Im Chorraum am Ende der Holzbankreihen steht ein prachtvoller Schnitzaltar, der farbenfroh die Kreuzigungsszene zeigt. Trauernde Frauen, die Jünger Jesus und ein Heer von Soldaten sind in kunstvollen Figuren dargestellt. Die goldenen Gewänder schimmern in der elektrischen Beleuchtung.
Der Kriminalist verharrt einen kurzen Moment, bevor er seinen Blick von der Pracht lösen kann, das Mädchen auf der vordersten Bank entdeckt und sich langsam nähert. Ihr Kopf ist nach hinten geklappt, der Körper zusammengesunken. In der Herzgegend springen ihm mehrere Einstiche im Mantelstoff ins Auge, der blutgetränkt ist. Steinboden und Holzbank sind blutverschmiert, unzählige Spritzer wurden über die Lehne bis auf zwei Bänke dahinter geschleudert. Der Hauptkommissar sieht seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
Das war Wut und Jähzorn, schießt es ihm durch den Kopf, während er sein Handy aus der Manteltasche zieht und die Nummer der Husumer Kripo eintippt.
»Swensen hier«, meldet er sich bei Jacobsen. »Ich stehe gerade in der Kirche von Witzwort. Hier gibt es ein Mordopfer, eine erstochene Frau. Schrecklicher Anblick. Trommel sofort das Team zusammen, Rudolf, und ruf als Erstes bei Hollmann an. Wir brauchen sofort die Spurensicherung.«
Der Kriminalist steckt sein Handy nach einem kurzen Austausch mit seinem Kollegen zurück in die Brusttasche. Entschlossen tritt er an die Frau heran, beugt sich leicht über den nach hinten geklappten Kopf und schaut der Toten direkt ins Gesicht. Im Kehlkopfbereich sind fleckige Blutergüsse und Rötungen zu entdecken, deutliche Würgemale. Die Augen stehen weit offen. Sie weisen schwache Bindehautblutungen auf. Swensen zuckt zurück, ein beklemmendes Gefühl drückt seine Brust zusammen.
Wie aus heiterem Himmel sieht er plötzlich die klaffende Halswunde eines der Kinder aus dem Sternschanzenpark vor sich. Das war 1992 gewesen, als er noch bei der Hamburger Kripo gearbeitet hatte. Nachts waren ihm die Mordbilder im Traum erschienen und das Erlebte war auch am Tage nicht verschwunden. Unerwartete Flashbacks ließen ihn damals die immer wiederkehrenden Bilder der Kinder sehen, als wären sie real vor ihm. Er hatte dann einen Vortrag über posttraumatische Belastungsstörungen an der Uni besucht. Dort war er auch Anna begegnet, Glück im Unglück. Nachdem er seine Probleme durch eine Therapie bei einer Kollegin von Anna
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