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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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Digitalsound des Kirchenliedes ›Ein feste Burg ist unser Gott‹. Pastor Claßen grinst den Kommissar etwas verlegen an, greift in die Manteltasche und zieht sein Handy hervor. Anna zupft Swensen am Mantelärmel und gibt ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, sich zurückzuziehen, damit der Pastor in Ruhe telefonieren kann.
    »Thiel sind Sie das? Nun erst einmal ganz ruhig, was ist denn los?«
    Anna dreht sich neugierig um und sieht noch, wie sich die Augen des Pastors erschrocken weiten. Die Psychologin spürt sofort, dass etwas passiert sein muss, denn der Kirchenmann wird aschfahl, stößt mehrere Fragen hervor und kommentiert das Telefongespräch immer wieder mit den Worten: »Das ist ja schrecklich!«
    Die Menschen, die sich vor dem Festzelteingang drängen, scheinen das ebenso zu spüren. Sie weichen wie ein bedrohter Fischschwarm zur Seite aus, sodass sich bald niemand mehr in unmittelbarer Nähe des Kirchenmannes aufhält. Als auch Anna und Swensen sich entfernen wollen, fuchtelt der Pastor wild gestikulierend mit der freien Hand.
    »Herr Kommissar … bitte … einen Moment!«, fleht er förmlich und deutet den beiden an, hierzubleiben. »Bleiben Sie auf alle Fälle dort, ich komme sofort«, hört Swensen ihn noch sagen, bevor er das Handy vom Ohr nimmt.
    »Ein Mord! Es ist … es ist ein Mord passiert«, sagt er fast abwesend.
    »Ein Mord?«, echot Swensen.
    »Der Organist ist in der Kirche …«, der Pastor bricht mitten im Satz ab und starrt ins Leere.
    »In der Kirche?«, fragt Swensen, »in welcher Kirche?«
    »Unsere Kirche in Witzwort. Das kann doch nicht sein.«
    »Was hat der Organist denn gesagt?«
    »Da sitzt ein junges Mädchen … vorn … ganz vorn in der ersten Sitzreihe … tot … und alles ist voller Blut!«
     
    In der Ferne, aus Richtung Tetenbüll, flackert der helle Feuerschein einer anderen Biike herüber. Der Nachthimmel ist wolkenfrei und das Mondlicht zeichnet scharfe Konturen in die Marschlandschaft. Außerhalb des Wagens scheint es Stein und Bein zu frieren. Swensen sitzt schweigend neben Pastor Claßen. Er hat Anna seinen Polo dagelassen, damit sie allein zurückfahren kann. Bis eben hat der Kirchenmann ihn noch mit Fragen überhäuft.
    »Es hat überhaupt keinen Sinn zu spekulieren, Herr Claßen«, hatte der Hauptkommissar geantwortet, mehr um seine eigene Vorahnung zu bekämpfen, als um den Kirchenmann zu beruhigen. »Wir wissen noch nicht einmal, ob wirklich ein Mord geschehen ist. Vielleicht hatte die Frau eine Krankheit, Magenbluten zum Beispiel. In so einem Fall kann es passieren, dass Blut erbrochen wird. Das sieht dann ganz schrecklich aus. In meiner Dienstzeit bei der Kripo habe ich so etwas schon öfter gesehen.«
    Er hat sofort einen Fall vor Augen, als er noch bei der Hamburger Schutzpolizei tätig war. Da hatten ein Kollege und er einen jungen Mann auf der Toilette einer Gastwirtschaft vorgefunden, der nach einem Blutsturz in seinem Blut lag. Obwohl Swensen damals fest an ein Verbrechen geglaubt hatte, war später nur ein natürlicher Tod festgestellt worden.
     
    »Immer wenn Gefühle kommen und wir glauben, mit ihnen nicht fertig zu werden, schauen wir in der Regel zurück in unsere Erinnerung. Wir wollen den Schein wahren, nicht aus der Fassung geraten. Das ist die unnötige Angst vor dem Löwengebrüll des Samsara, der Lärm der den Kreislauf des Lebens in Gang hält, der uns in jedem Moment sagt, dass gerade diese Situation uns das Leben lehrt.«
     
    Auf manche Lehren würde ich gerne verzichten, denkt Swensen, und spürt ein Vakuum in seinem Kopf, eine Blockade, die er von früher her kennt. Sie tritt immer auf, wenn er versucht seine Ängste nicht wahrzunehmen. Da hilft nur, sich die Ahnungen bewusst anzusehen.
    Wenn sich in der Kirche wirklich eine Ermordete befindet, dann bedeutet das jedenfalls etwas Abnormes, etwas, dass er bis jetzt noch nicht erlebt hat. Wer jemanden an so einem symbolischen Ort ermordet, kann nur eine schwere psychische Störung haben.
     
    Das Drosseln des Motors reißt den Hauptkommissar aus seinen Gedanken. Sie haben das Ortsschild von Witzwort passiert und fahren die Dorfstraße hinauf. Die geduckten Ziegelhäuser werden vom Lichtschein des Wagens aus der Dunkelheit geschreckt und huschen augenblicklich wieder dahin zurück. Claßen stoppt vor dem Grundstück der Kirche, deren Rundbogenfenster erleuchtet sind. Der Schattenriss des Gebäudes, das auf einem Hügel steht, zeichnet sich kaum vor dem Nachthimmel ab. Bevor die beiden

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