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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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Beziehung.«
    »Er kann das Opfer aber auch für längere Zeit gefangen gehalten haben. Das würde dann wieder auf einen Serientäter hindeuten«, wirft Silvia Haman erneut ein. »Außerdem hast du anscheinend vergessen, dass man beim Opfer diese Partydroge GHB gefunden hat, K.-o.-Tropfen wie beim ersten Opfer.«
    »Wo Silvia recht hat, da hat sie recht«, stimmt Mielke zu. »Davon konnte kein Trittbrettfahrer etwas wissen, Jan, das haben wir nicht an die Presse weitergegeben.«
    »Bleibt die Frage, wie sicher unsere Obduktionsergebnisse wirklich sind«, wirft Swensen ein. »Die Substanz Gammahydroxybutyrate ist bekanntlich ziemlich schwer nachzuweisen, oder? Vielleicht liegen die Kollegen falsch.«
    »Quatsch, Jan!«, fährt Colditz dazwischen. »Wo kommen wir hin, wenn wir Ergebnisse von den Experten anzweifeln, bloß weil es nicht in unsere Theorie passt?«
     
    *
     
    Es ist ein schöner Sommertag. Der Wind fährt über die prallen Weizenähren, als würde er sanfte Hände besitzen, und streichelt sie kaum spürbar hin und her, um im nächsten Moment mit voller Kraft über das Feld zu treiben und das Meer der Halme wie eine Wasseroberfläche auseinanderdriften zu lassen. Vom Horizont her tuckert ein riesiger grüner Blechkasten heran, schiebt die drehenden Schneidemesser vor sich her, bahnt breite Schneisen in die gelbe Pracht. Darüber flimmert eine mächtige Staubwolke in der Hitze. Von Weitem beobachte ich den Storch, der in einiger Entfernung von dem Mähdrescher durch das Stoppelfeld stolziert. Ich gehe auf dem Trampelpfad die Deichspitze entlang. Links von mir macht der Fluss eine lang gezogene Schleife. Wasser und Himmel, aufgelöst zu einer Lichtfläche. Hoch oben am weiten Pergamentblau kreist vor milchigen Wolkenschlieren ein Raubvogel mit ausgebreiteten Flügeln. Kurz vor mir flattert eine Elster flach über den Boden und landet in einem Bogen auf einem der Stackpfähle, die unten am Flussufer ins Wasser ragen. Das Gefieder schillert schwarz, smaragdgrün und weiß. Ein Geräusch in meinem Rücken lässt mich herumfahren. Nur wenige Meter entfernt steht eine Frau mit kräftigem Körperbau und breiten Hüften. Sie trägt kurz geschnittene Haare und hat eine eckige Brille auf der breiten Nase. Ihre Augen sind groß und blau. Sie trägt eine mit feinen Mustern bestickte weiße Bluse und eine kakigrüne Militärhose.
    »Hallo!«, sagt sie und stößt beim Sprechen leicht mit der Zunge an.
    »Kennen wir uns?«, frage ich leise, während meine Arme sich mit einer Gänsehaut überziehen. Mir ist, als würde ich eine unbekannte Vertraute treffen, wie eine Schwester, die mir meine Mutter verschwiegen hat. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, es pocht und schlägt, als wäre es kaum zu bändigen. Ich bekomme Panik, lege meine Hand auf die linke Brust. Die Frau tritt zu mir und legt ihre Hand auf meine. Sofort verschwindet meine Angst. Sie strahlt etwas Körperloses aus, sieht mir tief in die Augen und zieht ihre Hand unspürbar wieder von meiner Brust zurück.
    »Du bist Marion?«, frage ich.
    Sie lächelt mich nur an.
    »Ja, du bist Marion, Marion … ich weiß nicht … ich nenne dich einfach Marion D.«
    »Es ist Zeit«, mahnt die junge Frau. »Ich muss gehen. Aber keine Angst, ich bin bei dir, egal wo ich hingehe.«
    Ihre Worte schmerzen mich. Ich schließe die Augen und setze blind einen Schritt vor den anderen, gehe durch das Nichts immer geradeaus weiter. Eine unbeschreibliche Sehnsucht treibt mich an. Ich fühle, dass es zwischen uns noch etwas zu erledigen gibt. Ich kehre um. Die Frau steht noch am selben Ort. Je näher ich komme, umso mehr verliert ihr Körper an Substanz. Ein Licht strahlt aus ihrem Inneren. Ich trete dicht an sie heran, küsse ihren durchsichtigen Mund, atme das Licht in mich ein. Es ist der tiefste Atemzug, den ich je in meinem Leben gemacht habe. Augenblicklich weiß ich, dass wir beide, Marion und ich, für immer Seelenverwandte sein werden, dass wir für den Rest meines Lebens ein und dieselbe Person sind.
     
    »Diesen Traum hatte ich sieben Monate nach meiner Transplantation«, sagt Lisa Blau mit ruhiger Stimme. Tränen laufen ihr die Wangen hinab, tropfen auf den Tisch und hinterlassen feuchte Sterne auf dem glänzenden Universum aus Holz. »Solche Bilder, so etwas Reales, habe ich noch nie in einem Traum erlebt. Es schien, als wäre alles in Wirklichkeit passiert, als hätte ich gar nicht geschlafen, so lebhaft habe ich das Gesehene erlebt. Gleich nachdem ich erwacht war,

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