Eidernebel
nehmen. Er biegt von der Dorfstraße nach rechts ab, erreicht wenige Minuten später die Bundesstraße nach Husum, fährt geradeaus über die Kreuzung und passiert kurz danach das Ortsschild von Reimersbude. Die Asphaltstraße schlängelt sich in S-Form an den grünen Getreidefeldern entlang, an den wenigen Häusern und Höfen vorbei, zum Eiderdeich hinauf. Der Hauptkommissar stoppt den Wagen neben einem silberblanken Alutisch und zwei Bänken, direkt gegenüber vom Schleusenhäuschen, und steigt aus. »Kie-vit! Kie-vit!«, erklingt der Ruf des Kiebitz aus der Ferne. In dem kleinen Eiderhafen liegt ein Motorboot an einem schmalen Schwimmsteg.
Den Hafen gab es hier bereits vor 600 Jahren, hatte Stephan Mielke ihm vor Kurzem erzählt. Seinerzeit soll es sogar einen Fährbetrieb über die Eider gegeben haben, und weil der Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf dem Fährmann eine Bude gegen den Regen genehmigte, kam dieser Ort zu seinem merkwürdigen Namen.
Auf der anderen Seite der Schleuse ist ein kleines Staubecken, von dem aus sich zwei Wasserarme in die Wiesen schlängeln. Etwas lässt den Hauptkommissar zögern, bevor er den Pfad auf der Deichkrone betritt.
Welcher Dämon hat dich nur hierher getrieben, denkt Swensen verunsichert, und sein Blick erfasst sofort die Stelle, an der im Juni 1998 die halb tote Frau gefunden worden war. Ehe er richtig nachdenken kann, stürzen schon die alten Bilder aus der Nacht auf ihn ein.
Thomas Heitmann, ein älterer Kollege, der seit mehreren Jahren in Rente ist, führte die ersten Ermittlungen vor Ort, solange, bis die Kollegen vom K1 aus Flensburg eintrafen und den Fall übernahmen. Wegen seiner gerade überwundenen posttraumatischen Belastungsstörung war Swensen heilfroh gewesen, dass er bei dem Fall in der zweiten Reihe bleiben konnte. Die brutale Gewalt, die sich hier abgespielt hatte, machte ihm immer noch Angst. Es war dunkle Nacht gewesen und es waren noch keine Lampen an den Tatort geschafft worden. Deshalb hatte der erste Eindruck Heitmann glauben lassen, die junge Frau wäre bereits tot. Am Kopf klaffte eine tiefe Wunde, aus der viel Blut ausgetreten war. Jemand hatte mit einem schweren, stumpfen Gegenstand mehrmals auf die junge Frau eingedroschen und sie an Arm, Schulter, Brust und Kopf getroffen.
Marion Döscher, genau, das war ihr Name!
Während einer der Kollege den Puls fühlen wollte, schlug die Frau plötzlich unverhofft ihre Augen auf und versuchte zu sprechen. Es wurde sofort ein Krankenwagen gerufen und die entsetzte Spurensicherung musste mit ansehen, dass die Sanitäter während ihres Rettungsversuchs vermutlich wertvolle Spuren unbrauchbar machten. Die Frau wurde ins Husumer Krankenhaus gefahren und in ein künstliches Koma versetzt. Doch es kam nicht mehr zu einer Vernehmung durch die Kripobeamten. Nach drei Tagen war die Frau verstorben.
Physische Gewalt ist wirklich eine Sprache mit größter Überzeugungskraft, denkt Swensen, sie braucht nicht übersetzt zu werden. Gewalt ist unmissverständlich, sie ist sofort spürbar, wenn man einen Tatort betritt. Der Hauptkommissar schlendert langsam durch das frische Gras an den damaligen Tatort auf der Deichkrone. Seine Augen gleiten über den Boden, suchen nach Anhaltspunkten des Grauens, das hier verübt wurde, aber es ist nicht mehr das Geringste zu sehen. Das Blut ist schon lange unter die Haut der Erde gesickert, ist vom ewigen Organismus der Natur vereinnahmt worden.
Was mach ich hier eigentlich?
Er grübelt darüber nach, warum er geglaubt hat, der Ort könnte irgendeine Erinnerung ihn ihm wecken, einen Zusammenhang herstellen mit den frischen Fällen in den Kirchen. Aber selbst die beiden Kirchenmorde scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben. Es gibt bis auf die gleichen Tatorte und die Waffe keine eindeutige Handschrift.
Kann das in allen Fällen ein und derselbe Täter gewesen sein?
Eine Bewegung in der Grasfläche zieht die Aufmerksamkeit des Hauptkommissars auf sich. Er beugt sich hinunter und entdeckt eine große Kröte, die sich auf allen vieren durch die Halme kämpft. Plötzlich verharrt das Tier, hat ihn wahrgenommen. Die Pupillen, die sich in der goldenen Iris öffnen, schauen ihn magisch an. Der Körper ist übersät mit mikroskopisch kleinen Schluchten und Höhenzügen, die wie Juwelensplitter glänzen.
Das Leben ist an diesen Ort des Todes zurückgekehrt, denkt der Kriminalist. Gibt es überhaupt einen Ort der Unschuld? Gibt es irgendwo
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