Eidernebel
dieser alte Mordfall bis heute nicht aufgeklärt ist! Die Frau wurde damals am Eiderdeich gefunden und überlebte den brutalen Angriff nur drei Tage.«
»Das hört sich schon wesentlich besser an, Maria«, sagt Think Big wohlwollend. »Das klingt nach einer Story, aus der man was machen kann, finde ich! Aber diese Schauergeschichte, dass die Frau sich im Kontakt mit ihrer Organspenderin befindet, das ist nichts für uns, Maria. Das glaubt uns kein Mensch.«
»Langsam, Theodor! Warte doch erst einmal ab«, protestiert die Journalistin und spekuliert, dass der Chefredakteur das Thema nur vom Tisch haben will, weil er keine Ahnung von den neusten Forschungen der Biologen hat. »Ich werde keine obskuren Behauptungen aufstellen. Ich habe einen namhaften Zellbiologen gefragt, welche wissenschaftlichen Argumente für die Aussagen der Frau sprechen könnten.«
»Und? Was hat der zu dem Unsinn gesagt?«
»Ein transplantiertes Organ ist nicht bloß ein Stück lebloses Fleisch und der Empfängerorganismus nimmt das Organ nicht einfach wie ein Ersatzteil an. Der Kieler Zellbiologe hat mir berichtet, die Avantgarde der heutigen Biologen geht mittlerweile von einer ›Schöpferischen Ökologie‹ aus. Sie nehmen an, dass die Erinnerung nicht nur eine Eigenschaft des Gehirns ist, sondern möglicherweise von allen Substanzen. Diese Erkenntnisse könnten die beschriebenen Veränderungen, die meine Organempfängerin nach ihrer OP empfindet, sogar wissenschaftlich erklären.«
*
Stephan Mielke bremst langsam ab und steuert den Dienstwagen auf die Abbiegespur nach Friedrichstadt. Von vorn zieht eine nicht enden wollende Autokarawane heran. Der Oberkommissar trommelt nervös auf das Lenkrad und schaut zu seinem Kollegen Rudolf Jacobsen hinüber, der wegen der schrägen Sonne mit verkniffenen Augen neben ihm sitzt. Seine Boxernase wirkt in dem grellen Licht noch schiefer als sonst. Mielke streckt seine Hand aus und klappt die Sonnenblende auf der Beifahrerseite herunter. Jacobsen muss über die spontane Fürsorge seines Kollegen grinsen, der daraufhin beleidigt wieder nach vorn schaut. Im selben Moment wird eine kleine Lücke frei und Stephan Mielke drückt das Gaspedal durch. Der Polo schießt mit quietschenden Reifen über die linke Spur.
»Heeh, du drückst ja mächtig auf die Tube. Fährst du neuerdings für die Formel 1?«, kommentiert Jacobsen von oben herab. »Kannst es wohl gar nicht abwarten, in dieses elende Kaff zu kommen?
»Was hast du gegen Friedrichstadt? Ist doch ’ne nette Stadt.«
»So, was findest du daran nett? Hier ist Norddeutschland und nicht Holland!«
»Du bist und bleibst ein Kulturbanause, Rudolf.«
»Nur weil ich nicht die Augen verdrehe, wenn ich diese künstliche Kaaskopp-Architektur sehe? Ich bitte dich! Amsterdam des Nordens, wenn ich das schon höre.«
»Ein bisschen norddeutsche Geschichte würde dir guttun. Die Stadt ist schließlich nicht von Holländern, sondern von Herzog Friedrich von Schleswig-Holstein-Gottorf gegründet worden.«
»Ja, ja, ich weiß! Ich hab auch Heimatkundeunterricht gehabt. Ich weiß schon, dieser Speckdäne hat den ganzen Mist verzapft und dieses Religionsgesocks in unserer Gegend ansiedelt, Remonstranten, Mennoniten, Petersianer, Gichtelianer, Quäker, Juden!«
»Rudolf, das war im frühen 17. Jahrhundert!«
»Na und, man sieht ja, was dabei herausgekommen ist! Mittlerweile machen sich hier diese Islamisten breit. In Husum reiht sich schon eine Döner-Bude an die andere.«
»Was du täglich absonderst, Rudolf … Manchmal möchte ich dir wirklich eine reinhauen.«
»Du gehst zu oft zum Boxtraining!«
Der Oberkommissar beißt die Zähne zusammen, um die Kabbeleien für sich im Keim zu ersticken.
»Heeh, wo fährst du denn hin? Da war doch grad der Libo-Markt, rechts von uns. Bist du blind?«
Mielke biegt wortlos von der Tönninger Straße in die Brückenstraße, fährt geradeaus über eine Brücke, die die Ostersielzug-Gracht kreuzt, in die Innenstadt. Kurz hinter dem Rathaus, direkt am Marktplatz mit dem Brunnenhäuschen, steuert er den Dienstwagen auf den Parkplatz und verschwindet mit einem »Bin gleich zurück«. Jacobsen sieht verwundert wie sein Kollege auf eines der Giebelhäuser zusteuert und durch den runden Türbogen den Laden mit dem Schild ›Schiffsrundfahrten‹ betritt. Fast 30 Minuten später klemmt der Oberkommissar sich leicht grinsend wieder hinter das Lenkrad. Ohne Erklärung fährt er wieder zur Stadt hinaus und biegt nach hundert
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