Eidernebel
führen, geschweige denn, ihre Tanzlehrertätigkeit noch einmal ausüben zu können. Nach der Operation hatte sie die Vorstellung, sie müsse zum Dank für ihre Spenderin und die neu gewonnene Genesung auch selbst ein Opfer bringen, sozusagen ihre Tanzleidenschaft für das neue Herz opfern.
Ihr fällt ein, dass die ältesten Darstellungen vom Tanzen aus Indien stammen sollen. In einem Buch über Höhlenmalerei hat sie einmal die Abbildung einer Reihentanzformation gesehen. Die Zeichnung sollte zwischen 5.000 bis 2.000 Jahren vor Christi Geburt entstanden sein.
Immer wieder taucht Indien auf, schießt es ihr durch den Kopf. Auch der Traum, den sie während der Herz-OP gehabt hatte, führte sie nach Indien. Ihre Spenderin soll Indologie studiert haben, hatte Maria Teske ihr erzählt.
Das wird mir langsam unheimlich!
Lisa Blau hat den Eindruck, als würde sie nach der letzten Nacht noch intensiver empfinden.
Natürlich schlägt das neue Herz stärker. Aber kann es sein, dass ihr neues Herz auch zu stärkeren Gefühlen in der Lage ist? Jedenfalls ist nach der Transplantation alles extremer geworden. Wenn sie sich glücklich fühlt, schwebt sie gleich im siebten Himmel. Wenn sie einen schlechten Tag hat, so wie heute, wird sie unangemessen deprimiert, leidet am ganzen Körper wie ein Hund.
Einmal war sie Zeugin gewesen, wie sich ihr Tanzpartner in der Teeküche an der scharfen Kante einer Papiertüte in den Daumen geschnitten hatte und sich ein großer Blutstropfen bildete. Bei dem Anblick hatte sie selbst einen solchen körperlichen Schmerz gespürt, dass sie laut »Autsch« rufen musste.
»Das war doch harmlos«, hatte Harald darauf erstaunt zu ihr gesagt, »im Gegensatz zu dem, was du durchgemacht hast.«
»Deine Schnittwunde ist genauso real wie meine Transplantation. Schmerz ist Schmerz, jedenfalls fühlt sich das für mich genauso an«, war ihre Antwort gewesen.
Auch der Anblick von Gewalt und Brutalität ist für Lisa Blau mittlerweile unerträglich geworden. Sie verzichtet fast gänzlich auf die Abendnachrichten im Fernsehen und selbst harmlose Spielfilme bringen sie urplötzlich aus ihrem inneren Gleichgewicht. Als beispielsweise in der Filmkomödie ›Ein Fisch namens Wanda‹, die kleinen Hunde der alten Dame von einem Betonklotz erschlagen werden, fand sie es gemein und grausam, war innerlich zu verstört und geschockt, als dass sie über den schwarzen Humor von Herzen lachen konnte. Wie sollte sie da erst mit der Tatsache der Ermordung ihrer Spenderin zurechtkommen?
Ich muss endlich Klarheit über diese Marion Döscher haben, denkt sie aufgewühlt. Ich muss endlich den Kontakt mit der Familie aufnehmen. Was hält mich eigentlich noch davon ab?
»Gehen wir noch etwas trinken?«, fragt ihr Tanzpartner, nachdem die Tanzstunde beendet ist und die Paare mit viel Gekicher und den üblichen Sprüchen die ›Dancin’ Lounge‹ geräumt haben.
»Lieber nicht, Harald«, sagt sie entschuldigend, »du hast ja schon bemerkt, wie ich heute drauf bin. Ich mach mir noch einen Tee und geh dann auch.«
»Okay, wir sehen uns!«
Lisa Blau beobachtet durch die Tür zum Vorraum, wie Harald Lehmann seinen Mantel anzieht und den Arm zum Abschied hebt. Kurz danach fällt die Eingangstür mit einem dumpfen Knall ins Schloss. Augenblicklich breitet sich Totenstille aus, die Tanzlehrerin ist allein. Sie starrt auf ihr Abbild in der Spiegelwand, steht bewegungslos im Raum und spürt, wie die Gefühle aus dem Albtraum der letzten Nacht sie erneut bedrängen. Vor ihrem inneren Auge sieht sie die junge Biberratte in den Krallen des Raubvogels.
Das Leben lebt vom Leben, überlegt sie, während der Gedanke sie traurig werden lässt. Es ist schrecklich, aber ein Lebewesen kann immer nur auf Kosten anderer Lebewesen überleben. Das ist die bittere Realität, gerade auch für sie selbst.
Sie geht in den Vorraum hinüber, sucht im Büroschrank nach einem Blatt Papier, legt den Bogen auf einen kleinen Beistelltisch und starrt eine Zeit lang auf die magische Leere.
Diese Träume sind ein Zeichen! Marion hat mir selbst den Weg zu ihrem Elternhaus gezeigt!
Er ist da, der Impuls. Sie beginnt ohne Mühe zu schreiben.
Sehr geehrte Frau Döscher, sehr geehrter Herr Döscher,
es ist zwar schon über fünf Jahre her, aber ich möchte Ihnen immer noch jeden Tag für das kostbare Geschenk danken, das sie mir, ohne mich persönlich zu kennen, gemacht haben. Ich lebe mit dem Herzen ihrer Tochter und kann dadurch wieder ein
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