Eidernebel
zieht ein weiteres Phantombild aus der Jackentasche und hält es dem Organisten vor sein Gesicht. »Sagt Ihnen dieser Mann etwas?«
»Wer soll das sein?«
»Er soll um Kirchen herumschleichen. Haben Sie die Person in der letzten Zeit mal irgendwo vor einer Kirche gesehen?«
»Jetzt im Sommer schleichen immer einige Leute um die Kirchen herum, das sind typische Touristen. Aber wenn Sie das gerade so betonen, vor Kurzem hab ich jemanden an der Kirche von Katharinenheerd gesehen. Der verhielt sich wirklich etwas merkwürdig. Also, in der St. Katharina, direkt neben dem Altar, steht die große Holzskulptur des Ritters St. Jürgen auf seinem Holzpferd. Ich war an dem Tag – wie immer – oben auf der Empore, also ziemlich weit weg, aber ich hab da einen Mann gesehen, der kniete vor dem Pferdekopf und hat in das offene Maul geschaut. Sah dem Mann auf dem Foto irgendwie ähnlich, wenn ich so drüber nachdenke.«
»Und was hat er noch gemacht?«
»Keine Ahnung, so genau hab ich nicht drauf geachtet. Ich war ja da, um Orgel zu spielen.«
»War es das einzige Mal, dass Sie den Mann gesehen haben? Nur in Katharinenheerd, oder auch anderswo?«
»Nein, das war das einzige Mal. Aber ich kann ja weiterhin meine Augen offen halten.«
»Das würden wir sehr begrüßen, Herr Thiel. Wenn Ihnen der Mann noch einmal unterkommen sollte, rufen Sie uns bitte sofort an.«
*
Die Luft flimmert in der Hitze. Ich gehe auf der Deichkrone in Richtung Reimersbude. Nur ab und zu weht eine leichte Brise von der Eider den Deich hinauf, streift kurz mein Gesicht und weht landeinwärts weiter. Ich sehe, wie der Wind die prallen Weizenähren wellenartig vor sich her treibt. Ein grüner Mähdrescher tuckert in einer Staubwolke über das Feld. Die drehenden Schneidemesser kappen das Korn. In einiger Entfernung der Maschine stolziert ein Storch durch das Stoppelfeld und sucht Nahrung im aufgewühlten Erdreich der Reifenspuren. Die Eider nebenan macht eine lang gezogene Schleife. Am Himmel kreist ein Raubvogel mit ausgebreiteten Flügeln. Plötzlich verharrt er flatternd, stößt von oben herab und erhebt sich wieder mit einer Beute in den Fängen, die nach einer jungen Biberratte aussieht. Ich starre auf das zappelnde Tier, spüre, wie es mir vor Mitleid den Hals zuschnürt, und schaue dem Vögel lange hinterher, bis er nur noch ein kleiner schwarzer Punkt in der Ferne ist. Je kleiner der Punkt wird, umso größer wird mein beklommenes Gefühl. Eine dunkle Ahnung treibt mich an, ich folge dem Trampelpfad über die Deichkrone, der sich mit dem Fluss durch die Landschaft schlängelt. Es ist ein schier endloser Weg, der die Zeit verschluckt, Minuten, Stunden, und der mir ängstliche Gedanken vor meinen Füßen speit. Vom Horizont schleicht sich langsam die Dämmerung an. Ein kühler Wind weht vom Wasser herüber, bringt mich zum Frösteln. Ich gehe schneller, als müsste ich irgendetwas entkommen, doch bald bemerke ich, dass die Gefahr nicht hinter mir ist, sie scheint überall zu sein. Ein schmaler Kanal, der vom Fluss abzweigt, hindert mich am Weitergehen. Der Deich macht einen Knick nach rechts und endet an einer Straße, die den Kanal kreuzt. Daneben steht ein Schleusenhaus und aus dem Staubecken davor fließen mehrere Kanäle in die Wiesen. Mich fröstelt, ich gehe über die Straße und spüre, wie sich meine Nackenhärchen aufrichten. Weiße Dunstschwaden steigen aus den Wiesen empor und schweben über den Deich. In Höhe des Schleusenhauses steht ein Auto, die Kühlerhaube ist hochgeklappt und ein Mann beugt sich über den Motorblock. Der Bodennebel wird immer dichter, es dauert nur wenige Sekunden und ich stehe in einem milchigen Nichts und kann die Hand vor Augen nicht mehr sehen.
»Können Sie mir helfen?«, flüstert eine Stimme dicht an meinem Ohr.
Ich fahre herum, schaue aber ins Leere. Eine aggressive Energie ist in meiner unmittelbaren Nähe.
»Der Wagen springt nicht an!«
»Nein … nein!«
Ich laufe los, renne durch raumlose Watte.
Nur weg hier! Zurück auf den Deich!
Jemand ist hinter mir her, ich höre Schritte, die mir auf den Fersen bleiben. Etwas will nach mir greifen, ich bin nur noch einen Hauch voraus. Die Luft ist plötzlich eiskalt. Die Schweißperlen gefrieren auf meiner Stirn und mein Herz pocht in der Brust. Ein dumpfer Schlag reißt mir die Füße unter dem Körper weg.
Ich falle, falle, falle in eine weiße Unendlichkeit.
Ein Knall.
Nur ein Lidschlag und der Schrecken ist eine Illusion. Ihr Blick
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