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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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Zorn. Sie tritt mit voller Kraft gegen den Plastikstuhl, sodass er gegen den Tisch prallt und scheppernd zu Boden fällt.
    »Sie wollen mir hier etwas anhängen, unter allen Umständen …«, brüllt die Frau, »und zwar nur, weil ich in diesem Saftladen einen Betriebsrat einrichten will. Das ist die ganze Wahrheit!«
    »Einrichten wollten, Frau Giese! Das dürfte sich derzeit als nichtig erwiesen haben.«
    Franziska Giese merkt, wie sich ihr Nacken anspannt. Sie stürzt so wütend auf die Tür zu, dass der kleine Anzug automatisch zur Seite tritt. Es folgt ein lauter Knall. Mit ausholenden Schritten rauscht die blonde Frau an dem Gebäckregal entlang, drängt sich an der Schlange vorbei, die vor der Kasse ansteht, und verlässt die Filiale, ohne ihre ehemaligen Kolleginnen noch eines Blickes zu würdigen.
    Draußen wird ihre Wut von warmer Luft empfangen. Der schwarze Asphalt hat sich voll Sonne gesogen und strahlt eine flimmerige Hitze ab. Abrupt zuckt sie zusammen, als etwas von oben durch ihr Blickfeld zu Boden fällt. Sie erkennt, dass es ein gelbliches Schneckenhaus ist. Es rollt über das Pflaster und bleibt circa fünf Meter entfernt liegen. Franziska Giese schaut hoch, sieht einen Kolkraben herabflattern. Er landet punktgenau neben seiner Beute. Die dunkelbraune Iris mustert die Frau argwöhnisch, das Gefieder glänzt im grellen Licht metallisch grün. Der schwarze Schnabel schnappt nach dem Schneckenhaus. Dann schwingt sich der Vögel erneut circa 10 Meter in die Luft und lässt die Schnecke abermals herabfallen. Das Gehäuse hält auch dem zweiten Aufprall stand. Franziska Giese, die mittlerweile die Situation kapiert hat, hebt fuchtelnd die Arme und scheucht den herannahenden Vogel davon.
    Wenn wir Schwachen nicht zusammenhalten, wer sonst?
    Die Frau hebt die Schnecke auf, trägt sie in ein nahes Gebüsch und macht sich auf den Weg in Richtung Innenstadt. Der Marktplatz vor der Marienkirche ist auffallend voll mit Soldaten in Uniform. Neben dem Tine-Brunnen ist eine große Bühne errichtet worden, die immer mehr Zuschauer anlockt. Neben der Bühne entdeckt die Frau ein Plakat, das den heutigen Auftritt der Big Band der Bundeswehr ankündigt, die ein Benefizkonzert für Multiple-Sklerose-Erkrankte geben wollen. Etwas weiter entfernt, vor dem alten Rathaus, brüllen mehrere junge Leute lauthals den Satz: »Ziviler Ungehorsam, statt Militärspektakel!« Dabei schwenken sie ein Transparent, auf dem derselbe Satz zu lesen ist. Einige Polizisten sind gerade dabei, die kleine zivile Truppe mit handfester Argumentation zur Aufgabe zu bewegen. Bei dem Anblick muss Franziska automatisch an ihren Mann denken, der beim Flugabwehrraketengeschwader 1 hier in Husum stationiert ist, und dem sie am Liebsten ihre fristlose Kündigung verschweigen würde.
    Der wird mich zur Schnecke machen, schießt es ihr durch den Kopf, ein Glück hat er heute Wochenenddienst und muss in der Kaserne bleiben.
    Blechern hallen die Begrüßungsreden über den gefüllten Marktplatz. Langsam nehmen die Männer der Big Band auf der Bühne Platz, ein Oberstleutnant eilt ans Mikrofon, kündigt ›In The Mood‹ von Glenn Miller an. Das berühmte Saxofon-Solo startet, in das nach 13 Takten Trompeten und Posaunen einfallen. Während die Riffs an- und abschwellen drängt sich Franziska Giese aus der Menge der Zuschauer heraus und bummelt gemächlich zu einem kleinen Getränkestand hinüber.
    »Einen Riesling, bitte«, bestellt sie, bekommt ein Glas gereicht und stellt sich an einen Stehtisch zu einem Mann, der Weizenbier trinkt. Es beginnt langsam zu dämmern, von der Bühne tönt die Swingfassung von dem Frank Sinatra Hit ›It Was A Very Good Year‹ herüber. Der Alkohol steigt ihr langsam in den Kopf, betäubt die diffusen Zukunftsängste, die sich bis eben noch tapfer gegen die Bläser behaupten konnten.
    »Na, die Musik scheint Ihnen wohl nicht besonders zu gefallen?«, fragt der Mann mit dem Weizen etwas scherzhaft.
    »Doch, ich hatte nur keinen guten Tag«, antwortet sie knapp.
    »Ja, ja, die stressige Arbeit. Ich kann ein Lied davon singen, bin nämlich Betriebsrat. Ich weiß genau, wie die Lage in den Betrieben ist, seitdem Hartz II eingeführt wurde!«
    »Sie sind Betriebsrat?«
    »Genau, schon seit drei Jahren.«
    »Das ist ja ein Ding! Ich wollte grade einen gründen und jetzt … jetzt hat man mich fristlos entlassen.«
    »Weil Sie einen Betriebsrat gründen wollten?«
    »Davon gehe ich aus.«
    »Das kann doch nicht angehen, wo

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