Eidernebel
tastet durch den dämmrigen Raum. Die Schlafzimmertür, die sie immer offen lässt, ist zugeschlagen.
Muss der Zugwind gewesen sein, denkt Lisa Blau, streckt erleichtert die Beine aus dem Bett und geht zum Fenster, um die Klappe zu schließen.
Die Bilder der Nacht bedrängen ihr Bewusstsein. Sie spürt ihr Herz schlagen, real schlagen. Aber die andere Welt, aus der sie gerade erst erwacht ist, scheint genauso real zu sein.
Das ist der Traum!
Der Traum, den du schon öfter geträumt hast!
Nur viel eindringlicher als sonst!
Die Frau setzt sich auf die Bettkante und stützt den Kopf auf die Handflächen. Sie spürt einen beklemmenden Druck auf der Brust, als würde sie in einem engen Eisenring stecken.
Was will mir dieser Traum nur sagen?
Einmal hatten die Trugbilder sie zu ihrer Spenderin geführt, hatten ihr ihren Namen preisgegeben.
Waren das wirklich nur Trugbilder?
Trugbilder sind nicht wahr. Aber ihre Träume sind wahr, das hat ihr sogar die Journalistin aus Husum bestätigt. Außerdem war der heutige Traum noch einmal anders gewesen.
Richtig, diesmal ist es nicht derselbe Traum gewesen. Sie selbst war die Frau auf dem Deich.
Mit einem Mal glaubt sie ihren Traum zu verstehen. Sie selbst steckte im Körper ihrer Spenderin, sie war Marion Döscher, die den Weg über den Deich gegangen war. Und der Traum hatte nicht an der vertrauten Stelle geendet, an der sie früher immer erwacht war, er war weitergegangen. Da hatte plötzlich dieses Auto gestanden, auf der Straße, nachdem sie auf den kleinen Hafen bei Reimersbude gestoßen war und den Deich verlassen musste. Die hochgeklappte Kühlerhaube, was hat das zu bedeuten? Eine Panne? Oder war das geplant worden, eine Falle gewesen?
Ihre Erinnerung bricht jäh ab. Ein unheimlicher Gedanke steigt in ihr auf. Etwas in ihr wehrt sich noch dagegen, aber einen Gedanken kann man nicht beeinflussen, er denkt sich wie von selbst.
War das etwa die Situation, in der ihre Spenderin ermordet worden war?
Nein, das kann nicht sein!
Doch, es kann sein!
Du kannst doch keinen Mord sehen, den du nicht gesehen hast. Es sei denn, dein Herz hat ihn gesehen!
Ihr schwindelt. Sie will nicht mehr weiterdenken. Allerdings kennen ihre Gedanken keine Gnade, spulen die Bilder erneut ab, noch mal, noch mal und noch mal, bis sie glaubt, was sie sieht.
Ich bin ermordet worden!
»Kick, Kreuzen, Tip und Drehung! Und gleich noch einmal«, ruft der Mann im rhythmischen Tonfall in den Raum, während fünf Pärchen noch unbeholfen über den glänzenden Parkettfußboden schlittern. »Mehr Hüftschwung die Damen! Und die Herren, achten sie auf den Grundschritt. Nein, nein, stopp! So geht das nicht! Wie oft muss ich das noch sagen, beim Tanzen bestimmt in erster Linie der Mann, wo es langgeht! Und wo haben Sie gerade wieder ihren rechten Fuß, Herr Kemp?«
Lisa Blau fühlt sich irgendwie abwesend, sieht ihren Körper in dem riesigen Spiegel, der sich über eine Wand des Tanzraums zieht. Ihre Beine sind stocksteif und erstarrt, sie steht dort wie eine Fata Morgana aus einer anderen Welt. Neben ihr leitet ihr Tanzpartner Harald Lehmann die heutige Unterrichtsstunde mit ganzem Körpereinsatz. Lisa Blau ist die alltägliche Situation plötzlich unsagbar fremd.
Der Traum aus der letzten Nacht hat sie bis ins Mark erschüttert und den ganzen Tag über begleitet. Er ist nach wie vor real, lähmt ihren Körper, sodass die notwendige Beweglichkeit fehlt.
»Lisa und ich werden es Ihnen noch einmal von Anfang an zeigen«, sagt Harald Lehmann und baut sich vor Lisa Blau auf. »Achten Sie darauf, dass sie auf dem ganzen Fußballen stehen. Und dann, eins … zwei … und ran … zwei … eins … und ran.«
Lisa Blau setzt die Schrittfolge automatisch, kommt sich aber vor, als müsste ihr Partner eine Schaufensterpuppe führen. Sein genervter Blick verrät, dass sie nicht völlig falsch liegt.
»Was ist heute los mit dir, Lisa?«, flüstert er unwirsch.
»Hab einen schlechten Tag erwischt«, flüstert sie zurück.
»Na ja, die Neuen merken davon hoffentlich nichts. Aber lass das nicht einreißen«, flüstert er, löst ihren Kontakt und wendet sich an die Tanzpaare. »Nehmen Sie bitte die Grundposition ein! Und eins … zwei … und ran …«
Lisa Blau hat sich innerlich wieder abgemeldet, starrt wie hypnotisiert auf eine der apricot gestrichenen Wände. Vor der Transplantation hatte sie sich so krank gefühlt, dass sie nicht daran glauben konnte, je wieder das Leben eines normalen Menschen zu
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