Eidernebel
verhältnismäßig normales Leben führen
Es liegt nicht an den Verantwortlichen, dass ich Ihren Namen und Ihre Anschrift erfahren habe. Alle haben ihre Schweigepflicht gewahrt. Es war eine Journalistin, die mir bei der Suche nach Ihnen geholfen hat. Es hat mich viel Überwindung gekostet, diesen Brief an Sie zu schreiben. Ich könnte natürlich verstehen, wenn Sie mir nicht antworten wollen und habe gleichzeitig die Hoffnung, dass Sie mich kennenlernen möchten, so wie ich mich sehr freuen würde, Sie zu sehen und mit Ihnen zu sprechen.
In tiefer Dankbarkeit
Lisa Blau
Juli 2003
Franziska Giese hat kein gutes Gefühl, als sie den kleinen, schlauchartigen Raum der Libo-Filiale betritt. Seit fünf Jahren arbeitet die 39-Jährige beim Husumer Discounter und noch nie zuvor wurde sie zu einem Gespräch in den Aufenthaltsraum zitiert. Rechts am Pausentisch sitzt stocksteif der Filialleiter Herbert Jacobi, der ihrem Blick in auffälliger Weise ausweicht. Neben ihm hat sich ein unbekannter junger Mann im dunkelblauen Anzug niedergelassen, ein anderer im gleichen Outfit, der wesentlich kleiner ist, steht an die Wand gelehnt. Der Sitzende gibt ihr mit einer flüchtigen Handbewegung zu verstehen, dass sie auf dem Plastikstuhl Platz nehmen soll.
»Es dauert hoffentlich nicht allzu lange?«, fragt Franziska Giese mit fester Stimme. Die mittelgroße Frau hat sich fest vorgenommen, vor diesen Anzugträgern keine Blöße zu zeigen.
»Wie lange das hier dauern wird, hängt ganz von Ihnen ab, Frau Giese«, antwortet der Sitzende. »Haben Sie uns vielleicht etwas zu beichten?«
»Ich? Was soll ich Ihnen beichten? Ich weiß ja noch nicht einmal, wer Sie überhaupt sind?«
»Wir sind aus der Gebietszentrale Siek. Wir sind hier, um einige Ungereimtheiten in dieser Filiale aufzuklären. Also, noch ist Zeit, uns in der Sache behilflich zu sein.«
»Ich verstehe nicht, bei welcher Sache ich Ihnen behilflich sein soll?«
»Nun, es geht um die Kassendifferenz vor zwei Wochen. In Ihrer Kasse fehlten 16,59 Euro, oder ist Ihnen das etwa schon entfallen?«
»Was läuft denn hier für eine Nummer?«, fragt Franziska Giese mit scharfer Stimme. »Ich bleibe nicht eine Minute länger hier!«
Die Frau springt vom Stuhl auf und stürzt auf die Tür zu. Bevor sie dort ist, wird sie von dem kleineren Anzug zur Seite gedrängt. Er baut sich demonstrativ vor der Tür auf und signalisiert, dass es kein Durchkommen gibt. Die Frau nimmt ihr Handy aus der Handtasche, beginnt eine Nummer einzutippen. Aber der Anzug ist sofort neben ihr und entreißt ihr mit einer blitzschnellen Handbewegung das Gerät.
»Heeh, ich will sofort meinen Mann anrufen!«
»Solange wir die Probleme nicht gelöst haben, bleiben Sie hier im Raum und rufen niemanden an, verstanden!«, zischt der größere Anzug.
»Herr Jacobi, nun sagen Sie endlich mal was. Was soll das hier!«
Der Filialleiter schaut ängstlich zu den beiden Männern hinüber, doch die würdigen ihn keines Blickes.
»Herr Jacobi kann Ihnen nicht helfen. Es gibt Beweise, dass Sie in die Kasse gegriffen haben. Sie sind nämlich dabei gefilmt worden, werte Frau!«
»Gefilmt?«
»Genau, eine Überwachungskamera hat die Szene festgehalten.«
»Das war gar nicht so! Die Differenz habe ich selbst bemerkt. Ich hab’s Herrn Jacobi sofort gemeldet und musste das fehlende Geld aus der eigenen Tasche zurücklegen.«
»Und dann? Dann sind Sie durchgedreht!«
»Herr Jacobi, was für einen Schwachsinn verbreiten Sie da über mich?«
Der rundliche Filialleiter verbirgt sein Gesicht in den Händen, mit denen er sich abstützt, sitzt zusammengesunken in seinem engen Kittel, ein blitzweißes Häufchen Elend.
»Wenn Sie mit dem erhobenen Mittelfinger durch die Filiale rennen, wie würden Sie so was denn nennen, Frau Giese? Für mich sind das Wahnvorstellungen, werte Frau!«, sagt der größere Anzug.
»Wir müssen schließlich an unsere Kunden denken«, wirft der kleinere dazwischen. »Ich denke, das ist Grund genug, Ihnen eine fristlose Kündigung auszusprechen!«
»Ich hab niemandem den Stinkefinger gezeigt! Sie haben hier die Wahnvorstellungen!«
»Sie sind hiermit fristlos gekündigt. Und denken Sie immer daran, falls Sie sich irgendwelche Schritte für das Arbeitsgericht überlegen wollen, bekommen Sie eine Anzeige vom Unternehmen obendrauf. Wir haben einen eindeutigen Beweis in petto, der genau belegt, dass Sie in die Kasse gegriffen haben.«
Franziska Giese springt auf. Ihr Gesicht ist puterrot vor
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