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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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kein Vogel, kein Lärm. Und da ist es wieder, das Mondlicht über Reimersbude. Sie sitzt wie gelähmt im Wagen, während Maria Teske aussteigt und die Straße an der Schleuse entlanggeht, bis zu einem Blechschild am Zaun einer Weide. Obwohl dahinter keine Tiere grasen, weiß Lisa Blau, was auf dem Schild steht: ›Schafzuchtgebiet, Hunde sind an der Leine zu führen‹.
    Sie öffnet die Autotür und ruft der Journalistin zu: »Was steht drauf auf dem Schild?«
    »Schafzuchtgebiet«, kommt es zurück.
    Sie sieht sich auf der Straße stehen, ist plötzlich allein. Maria Teske ist verschwunden. Es gibt nur den Augenblick um sie herum, gefangen von der Ewigkeit.
    Der Mensch lebt weiter, auch nach dem Tod.
    Was ist es sonst, was in ihrer Brust schlägt, als das ewige Leben, das ihr das Wissen von diesen Dingen gibt, die sie gar nicht wissen kann.
    Werde auch ich weiterleben, nach dem Tod, ohne den Tod?
    In mir und meiner Gegenwart sind die Vergangenheit und die Zukunft, das ewige Dreieck des Lebens.
    Hat der Tod eine Gegenwart?
    »Maria!«, ruft sie. »Maria, wo bist du?«
    Bilder dringen in sie ein, milchiger Dunst kriecht aus den Wiesen, wabert über die Straße, trennt das Schleusenhaus von der Erde ab und lässt es frei in der Luft stehen. Ein feines Dröhnen flutet in die Stille der Natur.
    Es ist Musik, Orgelmusik von Bach, die Toccata d-moll.
    Direkt vor ihr steht der Wagen mit der geöffneten Motorhaube. Die Fahrertür steht offen, entlässt die Klänge ins Freie. Der Nebel steigt auf, wird immer dichter. Sie ist ohne Angst, das erste Mal steht sie gelassen in der Feuchtigkeit, die sanft über ihr Gesicht streift, wartet auf die Gestalt, die gleich aus dem Nichts auftauchen wird.
    Als Erstes sieht sie die Augen des Mannes vor sich, die sie gierig anstarren. Sie liegen tief im jugendlichen Gesicht, unbeweglich hart, kalt und blau. Darüber leicht geschwungene Augenbrauen. Der Kopf ist eiförmig mit einer hohen Stirn und blonden, gekräuselten Haaren, ohne Scheitel und nach hinten gekämmt. Seine Ohrläppchen sind angewachsen, der Mund ist weich, mit fein gezeichneten Lippen, die Mundwinkel zeigen nach unten. Das Kinn ist rundlich, seine Nase ist schmal, nach außen gewölbt. Die porige Haut ist auffällig blass mit einigen Sommersprossen.
    Wenn es um den Tod geht, verstummt selbst das Schweigen.
    Lisa Blau hält mit äußerster Anstrengung seinem Blick stand, weicht auch nicht ab, als sich die feingliederigen Finger nach ihr ausstrecken. Jetzt packen Hände ihre Schultern, als würden sie Krallen besitzen. Der Mann atmet schnell und flach, sein Mund öffnet sich. Er zeigt seine Reißzähne. Seine Lippen beginnen sich zu bewegen, sie sprechen mit ihr.
    »Hallo! Aufwachen! Werte Frau, wachen Sie auf!«, sagt eine Stimme und ihre Schulter wird geschüttelt. Lisa Blau öffnet die Augen und blickt in zwei hellblaue Augen, die sie freundlich anschauen. Der Busfahrer hat sich halb über sie gebeugt. »Sie sind eingeschlafen. Wir sind an der Endstation!«
     
    *
     
    In dem Moment, als Jan Swensen am Morgen die Inspektion betritt, merkt er, dass heute etwas anders ist. Es fühlt sich an, als würde eine andere Energie durch die Räume schwingen. Der Hauptkommissar geht über den Flur in Richtung Küchenzeile. In Höhe von Püchels Büro kommt zu seiner Ahnung noch ein ungewohnter fruchtiger Duft dazu, den er als Orange einstuft. Gleichzeitig dringt eine schwache Frauenstimme durch die geschlossene Tür, eine Stimme, die nicht einer der Kolleginnen der Inspektion gehört. Daneben kann er den Tonfall von Colditz und Püchel ausmachen. In der Küchenzeile trifft er auf Susan Biehl, die gerade dabei ist, einen Kaffee aufzubrühen. Swensen begrüßt die Kollegin mit einem kräftigen »Moin, Moin« und muss unwillkürlich schnuppern, weil ihm auch der Kaffeeduft ungewohnt vorkommt.
    »Spinn ich jetzt, oder ist das ein neuer Kaffee, Susan?«, fragt er, öffnet die Tür vom Hängeschrank und nimmt seine Teedose heraus.
    »Du hast echt eine Spürnase, Jan«, antwortet die Blondine aufgekratzt. »Kaleb Organic, ein äthiopischer Wildkaffee. Ich kann nur sagen Terroir .«
    »Keine Ahnung, was du meinst.«
    »Terroir, aus dem Französischen, steht für eine Gegend, in der die Bodenbeschaffenheit und die klimatischen Verhältnisse den Geschmack eines Weins beeinflussen. In Äthiopien gilt das für den Kaffee, das einzige Land der Welt, wo noch ursprünglicher Kaffee wächst. Und in den Regenwaldgebieten, selbst wenn sie nur wenige

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