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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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Bedürfnisse und Leidenschaften auszuleben. Aus diesen Fantasien werden immer dann reale Verbrechen, wenn es sich um extrem gewaltbesetzte Visionen handelt und diese Zwangsvorstellungen das Bewusstsein überlagern, immer wieder auf Verwirklichung drängen und sich letztendlich tatsächlich in einer Gewalttat entladen. Vielleicht haben sich die Allmachtsfantasien unseres Täters mittlerweile zu einem beherrschenden Impuls gesteigert, sodass er keine Vorsichtsmaßnahmen mehr treffen kann.«
    »Aber dein tolles Wissen hilft uns trotzdem nicht weiter«, wirft Silvia Haman lapidar ein.
    »Noch vielleicht nicht, Kollegin«, kontert Helene Klein mit gelassener Stimme. »Die sexuelle Befriedigung deutet auf ein hautnahes, ungebremstes Ausleben seiner geistigen Vorlage, dem Drehbuch der Tat. Es sieht so aus, dass der Täter aus seinen Fehlern lernt und in Zukunft seine Taten wieder penibler planen wird. Da liegt auch unsere Chance. Wenn der Täter aus seinen morbiden Vorstellungen ein abgesichertes Ritual entwickeln will, ist er zu starren Handlungsabläufen verpflichtet, die ihn leichter erklärbar machen werden. Das FBI unterscheidet beispielsweise den ›organized‹ und den ›disorganized‹ Killer. Der ›organized‹ Typ ist der planende Täter, der eher unter den Begriff Soziopath eingestuft wird. Er kann berufstätig sein, kann in einer Beziehung leben, wählt nur ihm unbekannte Opfer aus. Er verfolgt oft die Ermittlungen in den Medien, nicht selten genauso penibel, wie er seine Taten plant. Das Gegenstück, der ›disorganized‹, der nicht planende Typ, gilt als weniger intellektuell, gelegentlich auch als schizophren. Er ist Einzelgänger, lebt allein und zurückgezogen in der Nähe des Tatorts.«
    »Genau, von Beruf ist er Krabbenfischer, lebt bei seiner Mutter, war früher Bettnässer, ist natürlich als Kind sexuell missbraucht worden und hat seine Katze gequält. Und nicht zu vergessen, dass er selbstverständlich stottert, oder?«, platzt es aus Silvia Haman heraus, die dabei ihren sarkastischen Unterton freien Lauf lässt. »Steht alles in dem Buch ›Die Seele des Mörders‹ von diesem Ex-FBI-Mann John Douglas. Der rühmt sich sogar, den Regisseur von ›Das Schweigen der Lämmer‹ in Sachen Serienmörder beraten zu haben. Für meinen Geschmack ist das Buch nur mit psychologischen Plattitüden gespickt. Eine Kostprobe gefällig? Ein typisches Zitat lautet: Nichts geschieht einfach so.«
    »Und niemand übt Kritik einfach so, Kollegin Haman!«, bellt Stephan Mielke dazwischen.
    »Wer hat dich denn gebissen, Kollege Mielke?«
    »Was hat das, was du hier in die Runde wirfst mit Frau Dr. Klein zu tun? Das ist nur ein unqualifizierter Rundumschlag!«
    »Nenn mich Helene, bitte«, unterbricht Helene Klein. »Ich gehöre zum Team. Und in der Kritik an John Douglas bin ich übrigens exakt derselben Meinung wie …«
    »Silvia«, sagt Mielke trocken.
    »Und außerdem«, fährt Helene Klein fort, »kann ich ganz gut für mich selbst sprechen …«
    »Stephan«, sagt Silvia Haman.
     
    *
     
    Es ist schon nach Mittag, als Maria Teske in der Redaktion auf ihren Drehstuhl sinkt. Noch bevor sie den Computer hochfährt, steht Theodor Bigdowski vor seinem Glaskasten, hebt betont den rechten Arm und zeigt ohne ein Wort mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf sie. Der Chefredakteur ist es gewohnt, dass jede Person, die dieser Bannstrahl trifft, sofort alles stehen und liegen lässt und sich bei ihm einfindet. Deswegen erwartet er auch keine sichtbare Rückmeldung seiner Mitarbeiterin, macht auf der Stelle kehrt und wartet hinter seinem Schreibtisch im Büro auf sie. Normalerweise wäre die Journalistin jetzt bereits auf 180. Doch heute bleibt sie innerlich gelassen, startet seelenruhig den Computer und ist erst auf dem Weg, als die Windows Erkennungsmelodie erklingt.
    Die Therapie scheint irgendwie zu wirken, stellt sie fest. Kaum zu glauben, ich sitz nur da und erzähle so ’n bisschen, was in mir los ist, und diese Psychologin sagt nur ab und zu was dazu. Mehr nicht. Und trotzdem, das Herzrasen ist in den letzten Wochen kaum noch aufgetreten.
    Maria Teske besetzt den Holzstuhl, der einsam vor dem Schreibtisch steht, und schaut ihrem Chef, der nervös seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern kreisen lässt, erwartungsvoll in sein gerötetes Gesicht.
    Hochdruckstimmung, denkt sie.
    »Wie weit bist du mit deinem Artikel für die Morgenausgabe, Maria?«, fragt er unwirsch, ohne sie dabei anzusehen. »Diese Kirchenmorde

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