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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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Tempel aus ihrem Traum!
    Das kann nicht sein, das gibt es nicht!
    Doch, es ist der Tempel, ganz sicher!
    Es ist, als wären die Szenen aus ihrem Traum, den sie während ihrer Herztransplantation gehabt hatte, auf diesen Buchseiten abgebildet, bis ins Detail stimmt alles haargenau. Sie kann sich noch deutlich an die vielen Rattenfiguren erinnern, die in den Stein modelliert wurden und an der ganzen Tempelanlage zu finden sind.
     
    Die Eltern von Marion Döscher haben bei ihrem Besuch von einem Rattentempel erzählt, schießt es Lisa Blau durch den Kopf. Ihre Tochter war kurz vor ihrem gewaltsamen Tod von einer Indienreise zurückgekommen und ist auch in diesem ungewöhnlichen Tempel gewesen. Ich hab im Traum genau diesen Tempel gesehen, obwohl ich noch bis vor Kurzem überhaupt nichts von seiner Existenz gewusst habe. Das Herz meiner Spenderin hat ihn mir gezeigt, es kann nur so gewesen sein.
     
    Lisa Blau ist mit einem Mal, als wären alle Teile ihres Lebens nach dieser bedrohlichen Krankheit durcheinandergewürfelt worden und die einzelnen Fragmente würden nicht mehr richtig ineinanderpassen.
    Man sieht nur mit dem Herzen gut!
    Der Satz, den der Fuchs dem kleinen Prinzen sagt, fällt ihr ein, während sie die Bücher zurück in die Regale stellt und mit dem Bildband über den Rattentempel zur Ausleihe geht.
    Wenn es wirklich so ist, dass unser Herz das Haus der Seele ist, bin ich denn jetzt etwa ohne Seele, seelenlos?
    Ihre innere Stimme verstummt abrupt, zu unheimlich ist die gestellte Frage. Hastig zieht sie den Code des Buches über den Ausgabe-Scanner, steht fünf Minuten später auf der Straße und eilt in Richtung Innenstadt. Die namenlose Angst ist ihr wieder auf den Fersen, sorgt dafür, dass sie ihre Erinnerungen nicht verdrängen kann. Seit ihrem Besuch bei der Familie ihrer Spenderin sind die Ängste, dass sie in ihrem eigenen Körper nicht mehr allein das Sagen hat, in ihrem Bewusstsein wieder so präsent wie in der ersten Zeit nach der Operation. Nur jetzt ist sie sich noch viel sicherer, dass es keine Hirngespinste sind. Ihre plötzliche Vorliebe für scharfes Essen hat einen direkten Bezug zum Lebenswandel ihrer Spenderin. Ihr unerklärbares Faible für Cola wurde durch die Aussage der Mutter erklärt, dass ihre Tochter seit ihrer Jugend furchtbar gerne Cola getrunken hatte.
    Es beginnt bereits zu dämmern, als Lisa Blau die Bushaltestelle erreicht. Mehrere Personen stehen dort und warten, es kann also nicht mehr lange dauern. Die bunten Neonlichter der Geschäfte spiegeln sich im Glas der Haltestelle. Der Blick der Tanzlehrerin verliert sich in den Kreisen und Streifen, schaut durch sie hindurch und weckt den Traum, den sie schon öfter geträumt hat, der Traum von dem Spaziergang über den Deich, der immer an diesem unheilvollen Schleusenhäuschen geendet hat.
    Dieser merkwürdige Traum ist auch wahr!
    Sie muss an die Situation denken, als die Journalistin nach dem Besuch der Eltern den Vorschlag machte, noch kurz an den Ort zu fahren, an dem ihre Spenderin ermordet worden war. Im ersten Moment wollte sie nichts davon wissen, so tief hatte sie die Vorstellung erschreckt, doch am Ende war die Neugier größer gewesen. Ein unbändiges Gefühl, für dass sie sich gleichzeitig schämte, zog sie förmlich hin zu diesem schrecklichen Ort, an dem ihr Herz noch nicht das ihre gewesen war. Sie wollte ihn mit eigenen Augen sehen und während der wenigen Kilometer von Koldenbüttel bis Reimersbude hatte sie das Gefühl, als würde sie sich auf einer Reise vom Leben in den Tod befinden. Ihr Verstand wollte Gewissheit und gleichzeitig hoffte sie, diese schrecklichen Albträume könnten danach endlich aufhören.
    Der Vollmond stand am Himmel, als sie den Ort erreichten. Das Schleusenhaus war nur ein imaginärer Schattenriss, bis der Scheinwerfer von Maria Teskes Wagen es grell anleuchtete. Sofort hatte sie das Gebäude wiedererkannt.
     
    Das Hydraulikgeräusch der Bustür reißt Lisa Blau an ihren realen Ort zurück. Ihr Herz schlägt ruhig und gleichmäßig. Wie in einem Trancezustand steigt sie ein, findet auf der hintersten Bank einen Fensterplatz. Die Blitzlichter der Stadt ziehen vorbei, drehende Punkte, blinkende Buchstaben, eingetaucht in einförmige Flächen. Dahinter Häusergerippe, die sich leblos mitten im prallen Leben verstecken. In ihr ist es still, als würde sie träumen. Alles Gesehene verschmilzt zu einer Lichtlinie, die zwischen Himmel und Erde gezogen wird. Es gibt keine Bewegung mehr,

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