Eidernebel
selbstverständlich nicht ausgehe, wäre das die Politik von unserem Vorstandsvorsitzenden Dr. Kreienbaum in der Hauptzentrale in Hamburg.«
»Aber Sie halten doch den Kontakt zu den gesamten Filialen in Schleswig-Holstein? Was ist denn da Ihre Aufgabe?«
»Die Logistik, dass alle Filialen rechtzeitig mit Waren versorgt werden.«
»Ich wollte keine allgemeine Arbeitsplatzbeschreibung, Herr Zernitz. Weswegen besuchen Sie persönlich die einzelnen Filialen?«
»Wir führen beispielsweise Kontrollen durch, ob die Arbeitszeiten pflichtgemäß eingehalten werden.«
»Und Sie sprechen fristlose Kündigungen aus, auch pflichtgemäß, nehme ich an?«
»Wenn unsere Mitarbeiterinnen uns bestehlen, ist es das normale Prozedere. Es besteht also kein Grund, uns mit Gewalt von unseren Mitarbeiterinnen zu trennen«, grinst Zernitz. »Wir sind keine Auftragskiller der Hauptzentrale, meine Herren, wir arbeiten in einem harmlosen Einzelhandelskonzern.«
»Und Sie glauben natürlich auch, dass eine Kündigung nichts mit Gewalt zu tun hat, oder, Herr Zernitz?«
*
Es war einmal ein Junge, der wurde, kurz nachdem er gestorben war, zu der berühmten Mystikerin Karni gebracht, damit sie ihn ins Leben zurückrufen möge. Allen Menschen im Land war bekannt, dass die heilige Frau über magische Kräfte verfügte. Karni entsprach dem Wunsch, versetzte sich in Trance und traf auf den Todesgott Yama, der seine mächtige Keule furchterregend über seinem Kopf schwang. Sein grüner Körper war muskulös und in prächtige Kleidung gehüllt.
»Yama!«, rief die Mystikerin ohne Furcht. »Gebe sofort die Seele des Jungen heraus! Seine Eltern sind in Gram.«
»Das kann ich nicht mehr«, brüllte der Gott des Todes. »Der Junge ist bereits wiedergeboren. Deswegen habe ich keine Macht mehr über seine Seele.«
»Wenn deine Macht so gering ist«, verfluchte Karni Mata ihn mit zornentbranntem Gesicht, »verspreche ich dir, dass von diesem Zeitpunkt an keine Seele eines Verstorbenen aus meinem Volk je wieder dein Totenreich betreten wird. Nach ihrem Tode werden alle Seelen ab sofort als Ratten wiedergeboren. Und wenn die verstorbenen Seelen das Leben als Ratte hinter sich gebracht haben, sollen sie nach meinem Wunsche als Barde wiederauferstehen, denn bei uns Rajputen sind fahrende Sänger von je her hoch angesehene Personen.«
Das ist die Geschichte von Karni Mata, welche die Macht des Todesgotts Yama brach. Um die Göttin und die Seelen der Verstorbenen zu ehren, wurde vor 600 Jahren der Karni-Mata-Tempel in Deshnoke, einem kleinen Dorf südlich von Bikaner in Rajasthan, gebaut. Bis zum heutigen Tag pilgern die Menschen von nah und fern zu den Ratten des Karni-Mata-Tempels. Die Göttin aber hat wirklich gelebt.
Karni ist eine Chandri, eine Mondgöttin, gewesen. Sie wurde 1387 im Süden Indiens geboren und zog mit ihrer Familie nach Deshnoke. Wegen ihrer magischen Kräfte war sie weit über die Region hinaus bekannt geworden, als der Gründer von Bikaner eine Allianz mit ihr schmiedete und sie noch zu Lebzeiten einen nominellen Götterstatus bekam. Die Göttin der Kraft ist Durga, Karni Mata wurde ihre Inkarnation. Bis heute trägt Bikaners Flagge die Farben von Karniji und sie ist die Schutzgöttin des weltberühmten Kamelkorps ›Ganga Rissala‹.
Die Buchstaben tanzen plötzlich vor ihren Augen. Lisa Blau legt das Buch behutsam wie einen kostbaren Schatz aus den Händen, kann es noch gar nicht glauben, was sie in der kurzen Zeit alles herausbekommen hat. Neben ihr auf dem Lesetisch der Zentralbibliothek Kiel stapeln sich mehrere aufgeklappte Bildbände über Rajasthan, voll mit Fotos von Fenstern aus filigran gearbeitetem Sandstein und bunten Glassteinen. Edelstein besetzte Maharadscha-Throne, die auf dem Rücken bemalter Elefanten stehen. Eine knallbunte, exotische Traumwelt wirbelt durch ihre Gedanken und lässt ihre Fantasie erblühen. Mit elektrisierten Fingern greift sie nach dem Bildband ›Die Tempel in Rajasthan‹, sucht ungeduldig im Index nach dem Namen Deshnoke, dem Ort, an dem die Ratten einen eigenen Tempel haben sollen, und schlägt das Buch an der angegebenen Seitenzahl auf. Das Foto geht über eine Doppelseite und zeigt die prächtige Fassade des Tempels mit Göttern, Bäumen und Rattenreliefs aus weißem Marmor.
Beim Anblick wird der Tanzlehrerin plötzlich heiß, sie spürt ihren Herzschlag bis in den Kopf. Sie braucht einen Augenblick, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen kann.
Das ist der
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