Eidernebel
selbst groß werden, versetzen ihn in einen ekstatischen Zustand von Allmacht. In dieser Hochstimmung fühlt er sich allen überlegen, wird zu einer Art Gott, zu einem Herrscher über Leben und Tod, kann alle Schranken durchbrechen, beliebig oft und beliebig lange.«
Frau Dr. Klein setzt eine gezielte Pause, lässt ihre Worte nachwirken. Nachdem sie festgestellt hat, dass alle Augen an ihr haften, fährt sie fort.
»Lassen Sie mich zu der Frage kommen, was einen Sadisten auszeichnet. Ein Sadist hat sich von aller sozialen Ordnung losgesagt. Jede Form von Intimität sieht er als eine Bedrohung an. Ein Blick in sein Inneres könnte ihn enttarnen, zeigen, dass er scheu, angstvoll, schreckhaft, isoliert und unbeachtet ist. Damit ihm niemand auf die Schliche kommt, ist er für andere entweder der Fremde oder der Feind. Weil er selbst ein Entwurzelter ist, sucht er nach persönlicher Sicherheit. Und Besitz verspricht ihm diese Sicherheit. Deshalb will er über andere Menschen verfügen, zunächst in überbordenden Fantasiespielen, am Ende mit realer Gewalt. Die soziale Inkompetenz des Sadisten, gepaart mit seiner seelischen Impotenz, lässt ihn zu einem Killer werden, der nur noch fesseln, knebeln, stechen, foltern und töten will. Und genau an dieser Stelle kommt meine Tätigkeit ins Spiel. Die Gewaltausbrüche eines jeden Serientäters haben eine individuelle, rituell geprägte Vorgehensweise, die charakteristische Züge aufweist. Alles zusammen liefert mir die Informationen, um seine persönliche Signatur annähernd bestimmen zu können und seine Handschrift offen zu legen.«
»Und Sie glauben, die Kirchen als Tatort verweisen auf eine solche Handschrift?«, fragt Stephan Mielke.
»Das könnte, und ich betone könnte, also …, die Kirchen könnten einen rituell geprägten Hintergrund haben. Aber ich habe mich noch nicht ausreichend eingearbeitet, um das bereits exakt beantworten zu können. Da sind Sie mir voraus. Gruppenwissen ist stets umfangreicher. Ich muss mich erst mit den Fakten beschäftigen, brauche erst die Tathergangsanalysen, um zu einem annehmbaren Täterprofil zu kommen. Und noch eins, damit ich schnell ins Team aufgenommen werde, denke ich, dass Sie mich bitte wie Ihresgleichen auch Duzen. Ich bin Helene!«
»Danke für die einführenden Worte und das Angebot, Helene«, schaltet sich Colditz ein. »Ich stelle dir nach der Sitzung alle Kollegen der SOKO persönlich vor. Wie abgesprochen, bleibst du bei unseren Besprechungen erst einmal im Hintergrund, hörst einfach nur zu, bis du die Aktenlage kennst. Und wir machen so weiter wie jeden Tag.«
»Ich bin froh, dass die Sache endlich in die richtige Richtung läuft«, jubelt der Polizeirat, steckt sich eine Zigarette in den Mund und eilt zur Tür. »Ich werde selbstverständlich informiert, wenn es wichtige Fortschritte gibt!« Und schon ist er verschwunden.
Die hingeworfenen Phrasen von Heinz Püchel ärgern Swensen, besonders ›… endlich in die richtige Richtung‹ klingt noch länger in ihm nach. Er muss sich zwingen, den Worten von Colditz zu folgen, der gleichzeitig stichwortartig das Ergebnis des Autopsieberichts von Franziska Giese unter ihr Foto schreibt und dazu spricht.
»Todesursache – zwei tödliche Stiche ins Herz. Folter vor dem Tod – Hautschnitte, tiefe Stichverletzungen, Würgemale und Schläge. Mageninhalt – feste Nahrung circa vier Stunden vor dem Tod. Posthume Verletzung – aufgeschnittener Bauch, herausgezogener Darm. Rückstände an der Leiche – Spermaspuren.«
»Es sind Spermaspuren gefunden worden?«, fragt Swensen und meldet sich mit seiner ganzen Aufmerksamkeit zurück.
»Ein riesiger Fortschritt«, bestätigt Colditz. »Endlich gibt es eine heiße Spur. Leider bringt uns die DNA im Moment kein Stück weiter, sie befindet sich in keiner Datenbank. Die Identität des Täters bleibt weiterhin im Dunkeln. Trotzdem scheint eine veränderte Handlungsweise des Täters vorzuliegen. Der Mann wird unvorsichtiger, geht offensichtlich höhere Risiken ein, als in den beiden Fällen zuvor.«
»Oder die Gewaltfantasien haben in ihm eine neue Dimension erreicht und beginnen sich zu verselbstständigen«, unterbricht Helene Klein und zuckt verlegen mit den Achseln, weil sie es nicht lassen kann sich einzumischen. »Im Allgemeinen ermöglichen Fantasien ein introvertiertes Erleben. Sie sind sozusagen innere Drehbücher, nach denen die Filmbilder im Kopf ablaufen. Der Mensch nutzt das als Ersatzbefriedigung, um unerfüllbare
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