Eifler Zorn
halbe Stunde, um die Aussagen der Zeugin, die Ina bereits notiert hatte,
noch einmal mit ihr durchzusprechen. Es war kein Vergnügen. Die Frau erschien
ihr seltsam verstört, ohne dass sie hätte sagen können, warum. War es der
Schock über den Leichenfund? Menschen reagierten unterschiedlich auf so ein
Erlebnis. Nur wenige schafften es, rein sachlich zu bleiben und das
Schreckliche von sich wegzuschieben. Aber hier schien es mehr als das zu sein.
Bianca Friese benahm sich abwesend und wirkte fahrig, schaute ihr nicht in die
Augen, spie kurze, abgehackte Sätze aus. Als Täterin kam die Frau nicht in
Frage, wenn das, was der Arzt über das Alter der Leiche gesagt hatte, zutraf.
Mindestens zwei, eher noch sechs Monate oder deutlich länger hatte die in der
Kiste gelegen. Die Baggerfahrerin war erst mit der Einrichtung der Baustelle in
den Ort gekommen und hatte von Gemünd vorher nie etwas gehört. Was also stimmte
nicht? Judith malte hinter den Namen der Zeugin einen dicken Blitz in ihr
Notizbuch.
Als sie aus dem Container
trat, glich die Abrissgrube einem Termitenhaufen. Von Kopf bis Fuß in weiße
Anzüge gekleidete Gestalten kletterten über Mauerreste, knieten und hockten auf
dem Boden und arbeiteten nach einem System, das nur auf den ersten Blick für
Außenstehende chaotisch wirkte. In Wirklichkeit gingen die Kollegen von der
Spurensicherung nach festen Strukturen, Methoden und Abläufen vor, die später
die notwendige Orientierung liefern konnten. Ina Weinz und Sandra Kobler
lehnten am Dienstwagen und waren in ein Gespräch vertieft. Horst Sauerbier
stand, großzügige Gesten um sich werfend, mit Thomas Breitenbacher und einem
anderen Mann im gepflegten Freizeitlook und Gummistiefeln am Rand der Grube
oberhalb der Leiche. Letzterer machte einen genervten Eindruck, redete und
nickte, schüttelte den Kopf und legte Sauerbier schließlich in
freundschaftlicher Geste die Hand auf den Oberarm, bevor er in Richtung eines
dunkelblauen Wagens verschwand. Als er die Gummistiefel gegen Sneakers
austauschte, erkannte Judith im Kofferraum einen Golfcaddy. Der Staatsanwalt
hatte wohl schon Feierabend gehabt.
»So.« Sauerbier winkte dem
abfahrenden Wagen kurz hinterher, klatschte dann in die Hände und kam Judith
entgegen. »Alles klar. Kann losgehen, Mädchen. Der Staatsanwalt hat grünes
Licht gegeben. Wo fangen wir an?«
***
»Meinst du, sie brauchen
uns noch, oder können wir abrücken?« Sandra schaute auf die Uhr und dann an mir
vorbei. Ich drehte mich um. Ein Wagen hielt an der Straße, und ein Mann stieg
aus, den ich erst auf den zweiten Blick erkannte. Arno Kobler, Sandras Mann,
kam mit weit ausholenden Schritten, die mich an einen Bauern auf seinem Feld
erinnerten, auf uns zu. Er lächelte, nickte mir kurz zu und wandte sich dann an
Sandra.
»Ich komme gerade von der
Arbeit und habe euch hier stehen sehen.« Er reckte den Hals in Richtung der
Abrissgrube. »So spät noch Dienst? Habt ihr nicht schon lange Feierabend und
solltet dafür sorgen, dass eure braven Ehemänner nach getanem Tagwerk eine
anständige Mahlzeit auf den Tisch bekommen?« Er lachte laut und dröhnend und
legte seinen Arm um Sandras Schultern. »Schatz, ich habe Hunger! Füttere mich.«
Er drückte sie an sich. »Du weißt doch, was ich für eine schlechte Laune
bekomme, wenn ich nichts zu essen kriege.« Er zeigte seine strahlend weißen
Zähne, zog Sandra noch näher zu sich und küsste sie auf die Haare.
»Wir sind gleich fertig,
Schatz.« Sandra sah zu ihm auf, wartete darauf, dass er sie freigab. »Dann
fahre ich schnell nach Hause und mache uns etwas Leckeres.«
»So mag ich es«, sagte er,
lachte wieder schallend und ließ sie aus der Umarmung. Sandra lachte nicht. Sie
nickte und rieb sich die Stelle an ihrem Oberarm, an der Arno sie an sich
gepresst hatte.
»Der Pizzadienst ist auch
sehr zu empfehlen, um gestresste Polizistinnen zu entlasten«, warf ich ein, um
die Situation mit etwas Humor zu entschärfen, aber Arno reagierte nicht. Er sah
Sandra an, nickte und trat einen Schritt zur Seite.
»Dann mach ich mich jetzt
mal wieder auf den Weg. Vielleicht ist unsere Tochter ja schon zu Hause«, sagte
er mit einem tadelnden Blick in Sandras Richtung. »Es ist ja nicht schön, wenn
niemand da ist, der sich um sie kümmert, wenn sie aus der Schule kommt.« Er
drehte sich um und stapfte zum Wagen. Sandra zog scharf die Luft ein, als er
die Autotür zuknallte und den Motor anließ.
»Wow«, entfuhr es mir. »Bis
zu deinem Mann ist
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