Eigentlich bin ich eine Traumfrau
Anspannung auch nie ablegen, wenn ich wie Ruth die enge Nachbarschaft zu unserer Erzeugerin nicht aufgegeben hätte.
»Kannst du denn Apfelkuchen backen?«, fragt die gerade mit zusammengekniffenen Augen zurück.
»Ich kann Apfelkuchen backen«, sage ich schnell. Aber ich ahne, dass da viel mehr unter der Oberfläche schwelt als die Apfelkuchen-Problematik. Gleich wird sicher ein gröÃerer Streit ausbrechen. Warum nur bin ich nicht in Hamburg geblieben?
»Ich will Kuchen«, kräht da Tom, als wolle er mich retten.
»Ja, aber Kuchen ist ungesund. Guck mal, deine Tante ist schon ganz blass«, sagt meine Mutter, »und wird bald ganz dick.« Sie untermalt die Botschaft sicherheitshalber, indem sie mit beiden Händen einen groÃen Kreis in der Luft formt. Ich konzentriere mich mit aller Kraft auf meine strahlende Zukunft an der Seite von Rafael. So gelingt es mir als ein Musterbeispiel von Gelassenheit und Würde, die Demütigungen nicht weiter zu kommentieren.
»Papa, hältst du auf dem Rückweg bitte kurz beim Bahnhof, ich wollte noch schnell was besorgen.«
Ich habe zwar gerade bewiesen, dass ich absolut über den Dingen stehe, will mir aber sicherheitshalber dennoch ein paar Zeitschriften kaufen. Und zwar all diejenigen, die Themen wie »So werde ich stark, souverän und sexy« auf der Titelseite anpreisen. Und ich muss mir ein paar Frisuren ansehen. Ich weiÃ, dass ich am nächsten Tag aus Höflichkeit nicht gleich nach dem Frühstück aufbrechen kann. Also werde ich im Anschluss an diesen wie erwartet desaströsen Abend noch mal ganz in Ruhe die Badewanne meiner Eltern nutzen und Kraft sammeln. Vor den Zeitschriften werde ich natürlich eines von Rafaels Büchern lesen, um ihm auf geistiger Ebene schon mal näherzukommen. Und die Zeitschriften werden mich auf die physische Begegnung vorbereiten. Genau, ich werde am Ende eine so perfekte Verkörperung von Geist und Materie sein, dass sogar meine Mutter nur neidisch auf das Ergebnis blicken kann.
I ch lasse mich mit »Orpheusâ Rache« in die Badewanne gleiten. Meine Mutter ist wirklich gut sortiert, alles auf dem neuesten Beauty-Stand: Ich habe ein bisschen von ihrem Badekonfetti mit dem Duft wilder Rosen â man könnte auch Hagebuttenblüten sagen â eingestreut. Der soll ja nicht nur fröhlich stimmen, sondern auch den Hormonhaushalt der Frau positiv beeinflussen. Ich habe mir nämlich überlegt, dass ich vielleicht gar nichts dafürkann, dass ich manchmal so negative Gedanken gegenüber anderen Menschen und mir selbst hege. Vielleicht liegt es ja an den Hormonen, und denen sind wir erwiesenermaÃen wehrlos ausgeliefert. Ich habe von Frauen gelesen, die ihre Männer plötzlich nicht mehr liebten. Reihenweise gingen funktionierende Ehen in die Brüche. Dann endlich fanden Forscher raus, dass nicht die Wankelmütigkeit der Frauen, sondern die wahrnehmungsverändernde Wirkung der Antibabypille die Schuld an dem Elend trug.
Und damit nicht nur mein Hormonhaushalt harmonisiert, sondern auch meine Haut streichelweich wird, kippe ich noch einen groÃzügigen Schluck von Mutters Bio-Arganöl hinzu. Ich weiÃ, dass das Zeug schweineteuer ist. Aber schlieÃlich will sie ja, dass ich mich mehr um mich kümmere. Und nun werde ich eben mit den 1-A-Antioxidantien des Arganbaums etwas gegen die vorzeitige Hautalterung tun. Damit nicht sofort alles anfängt zu hängen, falls es mir gelänge, noch schnell drei Kilo abzunehmen.
Es liegt ganz sicher nicht an Rafaels schriftstellerischen Fähigkeiten, dass mir das Lesen so schwerfällt. Ich habe das Licht vielleicht etwas zu sehr gedimmt. Der Mann in
dem Roman muss ständig in den Spiegel schauen, um zu überprüfen, ob er noch am Leben ist. Irgendwie ist wohl sein Bezug zur Wirklichkeit verzerrt. Er trägt auch immer einen kleinen Taschenspiegel in seiner Hosentasche mit sich herum. Für andere Menschen interessiert er sich eher nicht. Die schüchternen Avancen mehrerer schöner, junger Frauen lehnt er brutal ab. Dann verliebt er sich doch noch in eine geheimnisvolle Fremde. So sehr, dass er erst nach der ersten Liebesnacht bemerkt, dass in ihrem Haus gar keine Spiegel hängen. Zunächst will er fliehen. Aber er ahnt, dass er sich seinem Schicksal stellen muss, und dass die Macht der Gefühle ihm vielleicht die Lebendigkeit verleihen wird, die ihm bislang
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