Eigentlich bin ich eine Traumfrau
Ende folgendes Bild: Ich sitze mit Rafael und zwei sehr wohlerzogenen sowie sehr talentierten Kindern in einer hübschen Stadtwohnung. Perfekt gestylt verlasse ich morgens mein idyllisches Zuhause, nachdem ich allen noch â mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen â Pfannkuchen samt frisch gepresstem Orangensaft zubereitet habe. Dann schreibe ich intelligenthumorvoll das Editorial des Hochglanzmagazins, an dessen Spitze ich mich voller Grandezza gearbeitet habe. Abends kehre ich ohne zerbröckelte Wimperntusche unter den Augen und mit Strumpfhosen ohne multiple Laufmaschen heim.
Noch besser: Ich schreibe auch Romane, und wir gehen als eines der groÃen Autorenpaare in die Geschichte ein. So wie Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Oder, wenn ich an die Fotos von den verquält dreinblickenden, vorzeitig gealterten Mienen der Franzosen denke, lieber die schicke New-Yorker-Stadthaus-Variante Paul Auster und Siri Hustvedt.
M eine neuen Vorsätze, als gelassenes und auratisches Wesen von entwaffnender Aufrichtigkeit durch die Welt zu schweben, werden gleich am Montagmorgen auf eine harte Probe gestellt.
»Du hast Blattkritik«, zischt Diana.
Mist. Das habe ich glatt vergessen. Bei der »Blattkritik«
sitzt man mit all den wichtigen älteren Herren des Hauses in einer Runde und erzählt als ein â zumindest was die Hierarchie betrifft â AuÃenstehender, was man von der letzten Ausgabe gehalten hat. Jeden Morgen muss einer dran glauben  â vermutlich in allen Zeitungshäusern Deutschlands. Es ist eine äuÃerst undankbare, absurde und demütigende Aufgabe. Man kann sicher davon ausgehen, dass man einerseits grob beschimpft wird, wenn man das Wort »Kritik« zu ernst nimmt, andererseits als serviler Schleimer belächelt wird, wenn man sich in Lobhudeleien ergeht.
Deswegen reihen wir armen Schweine immer Sätze aneinander wie »Viel Licht und viel Schatten« (Klartext: Ich habe die Ausgabe gar nicht gelesen, aber irgendetwas Gutes und Schlechtes wird es schon gegeben haben), »Schöne Lesegeschichte auf der Seite sechs« (Ich habe die Ausgabe gar nicht gelesen, weià aber zumindest noch, dass wir auf der Seite sechs immer die Reportage haben), »Spannende Geschichte, da muss man noch mal was nachdrehen« (Ich habe die Ausgabe gar nicht gelesen. Aber bei einem schnellen Blick auf die Ãberschrift erfasse ich, dass es um dieses verdammte Thema geht, das wir jetzt schon so oft im Blatt hatten, dass es wohl irgendwie wichtig sein muss).
Erschwerend kommt an diesem Morgen hinzu, dass ich die Ausgabe gar nicht gelesen habe. Wie auch â nach dem vergangenen Wochenende mit einer Schmierenkomödiantin als Mutter und den vielen anderen Imageproblemen. AuÃerdem: Von einem Konditor erwartet man ja auch nicht, dass er sich jeden Morgen süÃes, klebriges Zuckerzeug reinwürgt.
Aber soll ich das wirklich sagen? Ich denke nach und komme zu dem Schluss: Wenn man erst nach zwölf Uhr mit dem Ehrlichsein beginnt und spät genug schlafen geht, ist man am Tag länger ehrlich als unehrlich gewesen. Und wenn die Zahl hinter dem Plus gröÃer ist als die hinter dem Minus, dann ist man doch immer noch im Plus, also insgesamt ehrlich, oder?
Huch, ich habe ganz unabsichtlich eine Rechenaufgabe gelöst und hoffentlich damit das Blut der bleichen Herrschaften ein wenig in Wallung gebracht, so dass sie gar nicht mehr so genau hinhören. Tatsächlich strahlt mich Chefredakteur Dr. Hans Pfeiffer erwartungsfroh an. Der Rechentrick wirkt offenbar.
Dummerweise macht sich da aber auch schon das nächste Hemmnis auf dem Weg zu mehr Souveränität bemerkbar. Ich werde immer rot, wenn ich verlegen bin. Und ich fühle mich immer verlegen, wenn die Aufmerksamkeit eines ganzen Raums auf mich gerichtet ist.
Ich verschanze mich schnell hinter der Zeitung und kombiniere zum Aufwärmen zwei Alternativvarianten zu der Viel-Licht-und-Schatten-Nummer: »Keine AusreiÃer nach oben oder unten, solide Ausgabe.«
Ich kann leider nicht sehen, ob jemand zustimmend nickt, die anderen Köpfe sind auch alle hinter jeweils einem GroÃformat verborgen. Vermutlich nicken die alten Knaben dahinter gerade wieder ein. Vielleicht sollte ich sie aufwecken, in dem ich nun doch nach dem Ehrlichkeitsgrundsatz handle.
»Man sollte diese unsägliche Blattkritik abschaffen. Sie ist nichts als eine Quelle andauernder
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