Eighteen Moons - Eine grenzenlose Liebe (German Edition)
oder wie er seine kruden Theorien meiner Englischlehrerin erläuterte. Ich ging an ihnen vorbei ins Archiv. »Komm pünktlich zum Essen, Dad. Amma macht Schmorbraten.« Ich hatte keine Ahnung, was Amma kochen würde, aber Schmorbraten war sein Lieblingsgericht. Und ich wollte, dass er zum Essen wieder zu Hause war.
Ich wollte, dass er sich von meiner Englischlehrerin fernhielt.
Sie hatte anscheinend kapiert, was mein Vater nicht kapiert hatte, dass ich nämlich absolut nichts anderes in ihr sehen wollte als meine Lehrerin. Denn von einem Moment zum nächsten wurde aus Lilian English wieder Mrs English. »Ethan, vergiss nicht, ich brauche noch die Gliederung für deinen Aufsatz über The Crucible. Morgen nach der Englischstunde liegt sie auf meinem Schreibtisch. Das Gleiche gilt für Sie, Mrs Duchannes.«
»Ja, Ma’am.«
»Ich gehe davon aus, dass du schon eine Idee hast?«
Ich nickte. Tatsächlich hatte ich komplett vergessen, dass ich einen Aufsatz schreiben musste, geschweige denn dass ich vorher eine Gliederung abgeben sollte. In letzter Zeit stand der Unterricht nicht sehr weit oben auf meiner Prioritätenliste.
»Und?« Mrs English sah mich erwartungsvoll an.
Hilf mir aus der Patsche, L!
Mich darfst du nicht fragen. Ich habe selbst noch nicht darüber nachgedacht.
Danke.
Ich verstecke mich in der Abteilung für Nachschlagewerke, bis sie gehen.
Verräterin.
»Ethan?« Mrs English wartete auf eine Antwort.
Ich starrte sie an und mein Vater starrte mich an. Alle beobachteten mich. Ich kam mir vor wie ein Goldfisch im Glas.
Wie lange lebt ein Goldfisch? Das war eine Jeopardy -Frage der Schwestern vor ein paar Tagen gewesen. Ich versuchte, mich zu erinnern.
»Goldfisch.« Ich wusste selbst nicht, wieso ich das sagte. Aber in letzter Zeit platzte ich immer mit Antworten heraus, ohne nachzudenken.
»Wie bitte?« Mrs English war verwirrt. Mein Dad kratzte sich am Kopf und versuchte, nicht peinlich berührt zu sein.
»Ich meine, wie ist es, in einem Goldfischglas zu leben – zusammen mit anderen Goldfischen. Das ist nämlich ziemlich schwierig.«
Mrs English war nicht sonderlich beeindruckt. »Das musst du mir näher erklären.«
»Gerechtigkeit und freier Wille. Ich glaube, ich werde über Gerechtigkeit schreiben. Wer entscheidet darüber, was gut und was schlecht ist, verstehen Sie? Über Sünde und all das. Ich meine, entspringt sie einer höheren Ordnung, oder entscheiden darüber die Menschen, mit denen man zusammenlebt? Vielleicht die aus der eigenen Stadt?«
Es war mein Traum, der aus mir sprach. Oder meine Mutter.
»Und? Wer entscheidet, Ethan? Wer ist der oberste Richter?«
»Na ja, das weiß ich noch nicht genau. Ich habe den Aufsatz noch nicht geschrieben. Aber ich bezweifle, dass wir Goldfische das Recht haben, uns gegenseitig zu richten. Man sieht ja, wie weit es die Mädchen in The Crucible damit gebracht haben.«
»Hätte es jemand, der außerhalb der Gemeinschaft steht, besser gemacht?«
Mich überlief es kalt. Als ob man diese Frage wirklich mit Ja oder Nein beantworten könnte. Im Unterricht gab es keine richtigen oder falschen Antworten, Hauptsache, man konnte die eigene Ansicht begründen. Aber im Moment hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass wir über meine Englisch-Aufgabe sprachen.
»Ich denke, ich werde in meinem Aufsatz eine Antwort darauf geben.« Ich wich Mrs Englishs Blick aus und kam mir vor wie ein Idiot. Im Unterricht wäre das eine gute Antwort gewesen, aber nicht jetzt und hier.
»Störe ich?« Marian kam zu meiner Rettung herangeeilt. »Tut mir leid, Mitchell, aber ich muss die Bibliothek heute früher schließen. Besser gesagt das, was von ihr noch übrig ist. Ich fürchte, ich habe noch einige … dienstliche Verpflichtungen.«
Mit einem freundlichen Lächeln sagte sie zu Mrs English: »Sie sind jederzeit herzlich willkommen. Mit ein bisschen Glück sind wir bald wieder auf den Beinen und können im Sommer wiedereröffnen. Es freut uns, wenn Lehrer auf unseren Bestand zurückgreifen.«
Mrs English sammelte ihre Papiere ein. »Gerne.«
Marian schob die beiden zur Tür hinaus, ehe mein Dad fragen konnte, wieso ich nicht mitkam. Dann drehte sie das Türschild um und verschloss die Tür zweimal – allerdings nicht aus Angst vor Dieben.
»Danke für die Hilfe, Tante Marian.«
Lena streckte den Kopf hinter einer Wand von Kisten vor. »Sind sie weg?« Sie hielt ein Buch in der Hand, das sie in ihren Schal eingewickelt hatte. Ich las den Titel, der von dem
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