Ein Abenteuer zuviel
dass sie ihnen ihre Zeit und ihr Vertrauen geschenkt hatte.
„Glauben Sie, dass wir genug Material für die Reportage gesammelt haben?” erkundigte sich Ruth, als die Frau gegangen war und sie in ihre Jeansjacke schlüpfte. „Ich denke schon.”
Ruth gähnte, und er unterdrückte den kindischen Wunsch, ihr zu sagen, sie solle ihm gefälligst ihre volle Aufmerksamkeit widmen. Sie hatte ihn noch nicht einmal angeblickt, während sie mit ihm geredet hatte.
Tatsächlich hatte sie ihn seit dem kleinen Zwischenfall in seiner Wohnung nicht mehr wirklich angesehen.
Sie hatte den Mantel des Schweigens über die ganze Angelegenheit gebreitet, aber er wusste, dass sie sie nicht vergessen hatte. Das bewiesen ihre verstohlenen Seitenblicke, wenn sie glaubte, dass er woanders hinsehen würde, und es zeigte sich auch darin, wie sie ihm jedes Mal auswich, wenn er ihr zu nahe kam.
Ja, er übte noch immer eine gewisse Anziehungskraft auf sie aus, doch ihm waren die Hände gebunden.
Denn wenn er in den vergangenen Tagen versucht hatte, ihr mit neckischen oder amüsanten Bemerkungen die Anspannung zu nehmen, hatte sie stets mit einer verbindlichen Höflichkeit darauf reagiert, die ihn ver-
rückt gemacht hatte.
Franco beobachtete, wie sie den Notizblock in der Handtasche verstaute und dann wie jeden Abend die Taschen ihrer Jeansjacke abklopfte, um sich zu vergewissern, dass die Haustürschlüssel sicher in der Innentasche steckten. Gleich würde ihr Haar sie stören, so dass sie es hinten zusammenfassen und unter den Jackenkragen stecken würde. Er hatte das Gefühl, sie schon sehr gut zu kennen, wollte allerdings noch mehr über sie erfahren. Eigentlich alles.
Franco spürte, wie sich seine Angst zu Verzweiflung auswuchs. Eine Emotion, die ihm so fremd war, dass er kaum wusste, wie er damit umgehen sollte.
Wann hatte ihn bei einer Frau je Verzweiflung überkommen? Er hatte leichtes Interesse empfunden, bis hin zu leidenschaftlichem Begehren, aber bestimmt noch nie Verzweiflung.
„Wie war’s mit einem kleinen Schlummertrunk?” fragte er nebenbei, als er seine Jacke anzog. „Um auf die erfolgreiche Arbeit anzustoßen.”
„Nein, danke.” Ruth gähnte, fasste dann ihr Haar hinten zusammen und steckte es unter den Kragen. „Ich bin sehr müde.”
Obwohl er eigentlich keine andere Antwort erwartet hatte, ärgerte ihre Absage ihn dennoch unvorstellbar.
Bitten würde er sie allerdings nicht. Er konnte eine Frau genauso wenig um etwas bitten, wie er zwei Mal um die Welt schwimmen konnte. Und wahrscheinlich fiel ihm das Letztere sogar vergleichsweise noch leichter.
„Was soll ich mit all den Informationen machen, die wir zusammengetragen haben?” Ruth wandte sich ihm halb zu, blickte ihn aber nicht an. „Ich könnte sie übers Wochenende auf eine Diskette übertragen. Meine Handschrift ist kaum leserlich!” Sie stieß die Tür des Cafes auf und trat nach draußen.
„Ja, die Informationen.” Franco zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und klappte den Kragen hoch, denn es ging ein kalter Wind. „Sie sehen aus, als würden Sie frieren. Kommen Sie, nehmen Sie meine Jacke.”
„Nein! Machen Sie keinen Quatsch! Sobald ich im Taxi sitze, ist alles bestens.” Ruth streckte ihm die Hand entgegen, die etwas zitterte. „Bye!”
Sie lächelte ihn an. Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, so dass sie es wieder hinten zusammenfassen und mit einer Hand festhalten musste.
Ruth war froh, dass es dunkel war, denn so konnte Franco die Tränen, die ihr in die Augen getreten waren, vermutlich nicht sehen. Und wenn doch, dachte sie, schreibt er sie und die Tatsache, dass meine Hand zittert, hoffentlich der Kälte zu. In Wirklichkeit wurde ihr von Sekunde zu Sekunde elender zu Mute.
Natürlich war sie erleichtert, dass sich ihre Wege jetzt trennten. Sie hatte versucht, jenes demütigende Erlebnis zu verdrängen. Es war ihr jedoch nicht gelungen. Sie hatte sich gesagt, dass solche Dinge passierten. Allerdings hatte es ihr nicht geholfen. Sie hatte ihn nicht mehr anblicken können und ihren ganzen Mut gebraucht, um die letzten anderthalb Wochen durchzustehen.
Nach heute Abend würde sie Franco vermutlich nie wieder sehen. Er hatte in der Vergangenheit nicht oft in der Redaktion vorbeigeschaut und würde es in Zukunft wohl eher noch seltener tun. Allein meine Anwesenheit dort wird ihn davon abhalten, dachte sie.
Es war ihr nicht entgangen, dass er in den zurückliegenden Tagen immer wieder versucht hatte, ihr die
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