Ein abenteuerliches Herz
Gerhard, der ihrem Blick folgte, erschrak heftig: er sah ein Gesicht, das in das Zimmer hereinspähte.
Madame Stephanie hatte die obere Füllung aller Türen durch Scheiben ersetzen lassen, weil das den Flur erhellte und den Dienst erleichterte. Natürlich waren sie mattiert; man konnte durch sie weder in die Zimmer hinein noch auf den Flur hinaus sehen. Den Fall, daß jemand sein Gesicht dicht an die Scheiben preßte, hatte Madame Stephanie nicht berücksichtigt – das konnte in ihrem Hause nicht vorkommen. Dann allerdings mußte man es, wie jetzt die beiden Liebenden zu ihrem Schrecken, auch durch das Milchglas sehen.
Es war kaum anzunehmen, daß der Beobachter erkennen konnte, was drinnen vor sich ging. Doch sah er wohl die Lampen, das Feuer, die Schatten von zwei Personen am Kamin. Nicht deutlicher war sein Gesicht. Es war, als ob ein bleicher Fisch sich an die Scheibe ansaugte. Sie sahen es wie eine Fratze, die Kinder in Rüben schneiden und dann mit einem Licht erhellen, um andere Kinder zu erschrecken – wie einen Fetischkopf.
Der Schemen blieb nur einen Augenblick sichtbar, doch ging ein Schrecken von ihm aus, als ob er den Raum in eine böse Kammer verwandelte und mit Schuld auflüde. Dann erlosch das Licht auf dem Flur. Man hörte eine Tür ins Schloß fallen. Irene war aufgesprungen: »O das war schrecklich. Schließen Sie die Tür!«
Ihr war bereits beim Eintritt aufgefallen, daß er es versäumt hatte. Dem jungen Coquelin war das nicht unterlaufen; sie wußte freilich nicht, wie sehr er in der »Goldenen Glocke« zu Hause war. Es wurde unheimlich. Sie löschte die Lampen aus.
Als Gerhard sich der Türe näherte, kam draußen Geräusch auf, an das sich ein Wortwechsel schloß, undeutlich, mehr in Lauten, dazwischen Schritte wie beim Tanzen, ein unterdrücktes Kichern, dem ein entrüstetes Geflüster folgte … das alles gleich dem Flackern eines Brandes, der plötzlich in die offene, blutrote Flamme überging.
»Nein, laß mich los!«
Danach ein Hilferuf und gleich darauf ein Schrei, der das Gebäude in den Grundfesten erschütterte, ein Schrei, wie ihn Gerhard noch nie gehört hatte, doch den er sogleich verstand. Er leuchtete wie ein Blitz in Klüfte, auf deren Grund das Wissen um ihn verborgen war. Er riß die Bespannung entzwei. Es war der Schrei eines Menschen, der ermordet, und zwar mit dem Messer ermordet wird.
Dann wurde es still, bis auf ein Stampfen, als ob ein Riese vorüberschritte – oder war es das Blut, das Gerhard in den Ohren klopfen hörte, der mähende Takt seiner Herzschläge? Aber er mußte helfen; er schob den Riegel, den er bereits geschlossen hatte, wieder zurück.
Die Tür sprang auf, ohne daß er die Klinke berührt hätte. Sie wich nach innen unter dem Gewicht des Körpers, der vor ihr gekniet oder gesessen haben mußte und nun mit seiner halben Länge ins Zimmer fiel – mit einem Seufzer, der das Herz erstarren ließ. Das war kein Lebenszeichen mehr, kein Laut aus Reichen, in denen Schmerz empfunden wird.
18
Gerhard kniete zu Häupten der Toten, berührte die noch warme Stirn. Hier war keine Hilfe mehr nötig, kein Wasser, kein Linnen, weder Priester noch Arzt.
Das Zimmer war vom Kamin her bläulich erhellt. Auch auf dem Flur schien nun mattes Licht. Es war die erste Leiche, die er sah. Sie trug nur einen dünnen Mantel, eine Art von Kimono, und einen roten Pantoffel am linken Fuß. Der Körper leuchtete wie Marmor bis zu den Hüften, dann kam die furchtbare Zerstörung, als wäre ein Götterbild in Blut getaucht.
Gerhard wußte nicht, was den Toten zukommt, doch er fühlte, daß dieser Körper nach Schutz verlangte; er durfte ihn nicht im Stich lassen. Ihm war entgangen, daß Irene verschwunden war. Der Todesschrecken hatte sie erstarren lassen, um ihr dann die Kräfte eines wilden Tieres zu verleihen. Den einzig möglichen Ausweg erfassend, war sie ohne Hut und Mantel über den Leichnam hinweggesprungen in den Flur.
Das war geschehen, während Gerhard in der Betäubung sein Blut gehört hatte. Auf den Schrei war eine tiefe, hellwache Stille gefolgt, als ob alles Leben durch ihn gelähmt wäre. Dann wurde es lebhaft in der »Goldenen Glocke« wie auf einem sinkenden Schiff. In den Stockwerken öffneten sich Fenster, aus denen man um Hilfe schrie. Draußen ertönten Pfiffe und ein Gemurmel, als ob eine Menge sich sammelte.
Auf den Treppen entstand Bewegung; Türen schlugen zu. Aus dem gegenüberliegenden Zimmer erschien ein Herr mit kurzem, grauem Vollbart in
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