Ein abenteuerliches Herz
wachte der rechnende Verstand, unterstützt durch den sicheren Blick, den Enthaltsamkeit verleiht.
15
An den seltenen Tagen, an denen Madame Stephanie nach Mantes fuhr, um die Verwandtschaft zu besuchen, bei der sie nun seit langem in hohem Ansehen stand, oder an denen sie ihre Zustände hatte, wurde sie durch ihre Haushälterin vertreten: Fräulein Picard, die Zuverlässigkeit in Person.
Die Zustände wiederholten sich regelmäßig, mit schmerzhafter Migräne und Spasmen im Unterleib. In den Krisen färbte sich die rechte Hälfte des sonst elfenbeinfarbenen Gesichtes brennend rot. Dann mußte Madame Stephanie trotz ihrer Energie die Segel streichen und sich zu Bett legen. Das war sehr lästig, wenn es auch selten länger als einen Tag dauerte. Es gab kein Mittel dagegen, obwohl ihr Hausarzt, Doktor Besançon, der ganz in der Nähe wohnte, keine Mühe gespart hatte. Er pflegte warme Umschläge und Opiumtropfen zu verordnen und, wenn er Stock und Hut in die Hand nahm, nie die Bemerkung zu versäumen: »Ich sollte Ihnen ein Rezept für einen gesunden Jungen verschreiben, Madame Stephanie.« Da er wußte, daß solche Scherze seine Patientin verstimmten, setzte er sogleich hinzu: »Ich meine, Sie sollten heiraten.« Madame Stephanie pflegte dann zu erwidern: »Nun machen Sie aber, Doktor, daß Sie hinauskommen.«
Der Doktor liebte als ausgepichter Junggeselle, die Frauen durch gewagte Scherze aufzubringen; er fand, daß das erheiterte. So hatte der kleine Dialog auch heute stattgefunden, obwohl die Migräne besonders heftig war. Sie wurde noch schlimmer gegen Abend, als es zu nebeln begann. Im Leib bewegte es sich wie Spiralen, die sich zusammenzogen und wieder aufrollten. Die rechte Gesichtshälfte glühte, die linke war eiskalt. Bald war das Fieber unerträglich und bald der Schüttelfrost.
Madame Stephanie lag in ihrem Schlafzimmer. Das Haus war im vorigen Jahrhundert nach dem Muster der genuesischen Villa gebaut worden: mit erstem und zweitem Stockwerk und einem Halbstock für die Dienerschaft. Der untere Stock war für die Wirtschaft, der obere für die Gäste bestimmt. Im Halbstock war die Decke niedrig, die Wände waren abgeschrägt. Das ist für Schlafzimmer sogar gemütlicher.
Die Tropfen hatten bereits gewirkt. Sie waren wohltätig. Sie brachten einen höheren Zustand als den des Schlafes hervor – eine Art des Fluges, der leicht über blühende Wiesen dahinführte. Aber die Blumen waren schöner und unvergänglicher als Rosen und Lilien, als ob ein Engel sie gemalt und dann belebt hätte. In ihrer Betrachtung vergingen Schmerz und Zeit.
Aber verging denn die Zeit? Ebensogut war möglich, daß sie stillestand. Zuweilen sah Madame Stephanie im Schein des Nachtlichts, das in einem Wasserglase schwamm, auf ihre Uhr. Da konnte es vorkommen, daß, nachdem sie sich endlos an den Blumen erquickt hatte, kaum eine Minute verflossen war. Das war bestürzend, diese Zeit, die pfeilschnell dahinschoß und zugleich stillestand. Man war am Ufer des Stromes und zugleich in seinen Schnellen, im Mittelpunkt des Rades und an seinem fliehenden Rand.
Endlose Träume waren ein großer Luxus für eine Frau, die Tag und Nacht im Dienst war wie Madame Stephanie. Sie war sich dessen in den Pausen, in denen sie auf die Uhr sah, wohl bewußt. Und heute war sie besonders unruhig, da auch die Picard bettlägerig war. Ihr linker Arm war dick geschwollen; der Doktor wollte noch bis morgen warten, dann würde er einen Schnitt machen. Wie oft hatte man ihr gesagt, sie solle beim Tranchieren vorsichtiger sein. Wenn es Enten gab, pflegte sie die Tiere mit einem spitzen Messer zu durchstechen, wie es die Kunst erforderte. Aber sie arbeitete zu schnell. Und so ein Stich ist gefährlicher als eine große Schnittwunde.
Draußen schlug eine Turmuhr. Es mußte die von der Rue Duphot sein. Zwölf Schläge drangen matt durch den Nebel herein. Ob auch die Hintertür gut abgeschlossen war? Madame Stephanie war nicht ängstlich, aber die Hintertür bildete die schwache Stelle an ihrem Haus. Obwohl der Markt zeitig geschlossen wurde, blieb immer ein besonderes Treiben um ihn. Es gab da große Hunde, Betrunkene und Liebespaare, die sich in den Winkeln herumdrückten. Nach dieser Seite hin mußte man aufpassen. Vielleicht hätte sie doch schließen sollen, was freilich bisher nur einmal, bei der Einsegnung ihrer Nichte, vorgekommen war.
Im Restaurant war Joseph, da gab es keine Sorge, doch für die Zimmer mußte die Bourdin einspringen. Die Bourdin
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