Ein abenteuerliches Herz
Angehörigen geschieden und hatte kaum Schmerzen gehabt. Ich hatte nicht zur Beerdigung kommen können, da ich verreist gewesen war. Nun sah ich den Sohn; mir fiel auf, in welcher Ordnung ich die Kondolation vorbrachte. Die einzelnen Umstände folgten sich ihrem Gewicht nach und waren, als ob ich es lange überlegt hätte, aneinandergereiht.
Man fühlte sich hier wohl, obgleich alles flach und vordergründig war. Die Kulturlandschaft war nicht verändert; sie war verdünnt. Ich entsinne mich, daß ich in ähnlicher Stimmung mich durch Romane hindurchgelesen habe, so durch den »Mann ohne Eigenschaften« von Musil.
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Im Traum durchschritt ich eine herrliche Stadt, die allen mir bekannten an Eleganz weit überlegen war, weil altchinesische Formen sich mit den europäischen vereinigten. Ich sah die Gräberstraße, den Markt, die Hochhäuser aus rotem Granit.
Wie häufig bei solchen Wanderungen, sammelte ich auch einige Käfer in eine Ätherflasche ein. Als ich sie leerte, um die Beute zu betrachten, fielen mir zwei oder drei Tiere auf, die ergriffen zu haben ich mich nicht erinnerte, darunter eine karneolrote Anoxia, die fast durchsichtig war. Erwachend entsann ich mich jedoch, daß ich sie vor einigen Nächten während eines anderen Traumes in die Flasche geworfen hatte, und erstaunte darüber als über einen auf merkwürdig konkrete Weise in diese Welt hereinragenden Zug.
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Der große Bierpalast war arg verwahrlost; in seinen Hallen wurde scharf gezecht. Der Stoff war gut. Die Faxe füllten ihn aus den Fässern in zinnerne Krüge und teilten ihn in irdenen aus.
In den Sälen feierten Vereine ihre Stiftebiere und andere Jubiläen – so ging es hier Nacht für Nacht. Durch die Türen, die auf- und zuschwangen, sah ich die Tische der Großwildjäger, der Werwölfe, der Landwehrdragoner, der Städtischen Feuerwehr. Zwischen den Krügen, sie kaum überragend, standen die Hausgeister, kleine Penaten; sie hielten Banner mit eingestickten Wappen, Daten und Kernsprüchen. An den Wänden hingen vergilbte Bilder, meist Gruppenaufnahmen und Porträts der Schirmherren.
Rauch wehte herein, mit Fetzen von Liedern, Lachsalven und trunkener Großprahlerei. Nur in einem der Säle war es still, als ob der Ton ausgefallen wäre, doch wurde flott getrunken; dort tagten die Stummen und Taubstummen. Ihnen präsidierte ein Schwarzer Adler; er hatte den Rock geöffnet, auf dem der Stern blinkte, und den Hals vermummt: Bergmanns Signet.
Auf den Treppen war ein lebhaftes Kommen und Gehen; sie stiegen hinab, um sich der Unmengen Bieres zu entledigen, und kamen erleichtert zurück. Auch ich hatte schon gut genossen, saß mit offener Jacke am Zechtisch und rauchte eine halblange Pfeife, in die ein Wappen eingebrannt war. Ich war zwar räumlich, doch kaum noch zeitlich orientiert, wußte nicht, zu wem ich gehörte und was ich hier zu tun hatte. So altbekannt waren mir die Gesichter, daß ich die Namen vergessen hatte wie auch den des Banners, obwohl mir die Farben vertraut waren.
Der Rauch, der aus den Aschenschalen aufstieg, ließ die Wolfsgesichter zittern und kräuselte das Wappen, als ob der Adler die Schwingen regte, der dort horstete. Die Wolken schichteten sich an der Wand zu Bändern und belebten das Gemälde, das oben im Goldrahmen hing. Sie schmeckten nach dem klassischen Pulverdampf, der sich vor den Mündungen ballte und dann in Schleiern über den Kampfplatz zog. Vorn blitzten die Glühwürmchen; aus der Tiefe krochen dunkle Raupen heran. Das Bild schien sich bald zu verengen, bald über den Rahmen auszuweiten, und die Bewegung sich bald zu beschleunigen, bald zu verharren, als ob sie vereist würde. Dazwischen lagen Zeiträume.
Der Abend mußte mit dem Bild zu tun haben. Wahrscheinlich ein Jubiläum, ein Jahrestag. Wir hatten damals etwas angegangen – ein Waldstück, einen Dorfrand, eine Bergkuppe? Vielleicht waren es auch die Väter gewesen oder die Großväter – das war solide Arbeit, so wurde längst nicht mehr gemalt. Richtig, jetzt fiel mir auch ein Name ein: Rothmaler. Oder schrieb er sich Rotmahler? Gleichviel ob er gemalt oder gemahlen hatte – die Leute waren inzwischen wie wir alle heruntergekommen, wurden jetzt Rotmund oder auch Rottmund genannt, verdienten an der Börse und durch üble Nachrede.
Der Alte war noch ein Kerl wie gehacktes Eisen gewesen – »Wo gehobelt wird, fallen Späne«, »Das Wort unmöglich steht nicht in meinem Lexikon«, »Jeder trägt fünfzig Patronen mehr, als er tragen kann«
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