Ein abenteuerliches Herz
zu setzen, als er bei Kluge in La Roche-Guyon Vortrag gehalten hatte und kein Zweifel mehr darüber walten konnte, daß das Attentat mißlungen war. »Die Riesenschlange im Sack gehabt und wieder herausgelassen«, wie der Präsident sagte, als wir in höchster Erregung bei geschlossenen Türen verhandelten. Erstaunlich ist das Trockene, Geschäftsmäßige des Aktes – die Grundlage der Verhaftung bildete ein einfaches Telefonat an den Kommandanten von Groß-Paris. Dem lag wohl auch die Sorge zugrunde, nicht mehr Köpfe zu gefährden als unbedingt erforderlich. Aber das sind solchen Mächten gegenüber keine Gesichtspunkte. Dazu der völlig unfähige und magenkranke Oberst von Linstow als Chef des Stabes, der kurz zuvor eingeweiht wurde, weil er technisch unentbehrlich war, und den man jetzt wie ein Gespenst vor der Auflösung im »Raphael« umherschleichen sieht. Wenn wenigstens mein alter Fahnenjunker Koßmann noch Chef gewesen wäre; er hätte zum mindesten getan, was man von einem Generalstabsoffizier erwartet, nämlich die Zuverlässigkeit der Nachrichten geklärt. Dazu kommt der Unfall Rommels vom 17. Juli, mit dem der einzige Pfeiler brach, auf dem ein solches Unternehmen sinnvoll war.
Demgegenüber die fürchterliche Aktivität der Volkspartei, die durch den Vorstoß kaum ins Schwanken geraten ist. Ja, das war lehrreich: den Körper heilt man nicht in der Krisis, und auch nur im ganzen, nicht am Organ. Selbst wenn die Operation gelungen wäre, hätten wir heute statt eines Karbunkels deren ein Dutzend, mit Blutgerichten in jedem Dorf, in jeder Straße, in jedem Haus. Wir stehen in einer Prüfung, die begründet und die notwendig ist; und diese Räder schraubt man nicht zurück.
Paris, 22. Juli 1944
Anruf von General Loehning aus Hannover, der mitteilte, daß in Kirchhorst alles in Ordnung ist. Ich wunderte mich über seine Scherze, da zweifellos alle Gespräche überwacht werden. Gleich darauf vernahm ich von Neuhaus die Schreckensnachricht, daß Heinrich von Stülpnagel gestern auf der Fahrt nach Berlin die Pistole auf sich richtete, jedoch am Leben blieb und das Augenlicht verlor. Das muß um dieselbe Stunde geschehen sein, für die er mich zu Tisch gebeten hatte, zum philosophischen Gespräch. Daß er inmitten der Verwirrung das Mahl noch absagen ließ, ergriff mich; es ist ein sein Wesen bezeichnender Zug.
Welche Opfer hier wieder fallen, und gerade in den kleinen Kreisen der letzten ritterlichen Menschen, der freien Geister, der jenseits der dumpfen Leidenschaften Fühlenden und Denkenden. Und dennoch sind diese Opfer wichtig, weil sie inneren Raum schaffen und verhüten, daß die Nation als Ganzes, als Block in die entsetzlichen Tiefen des Schicksals fällt.
Paris, 23. Juli 1944
Die erste Frage des Generals, als er geblendet erwachte, soll der Einrichtung des Lazarettes gegolten haben; er wollte wissen, ob der Chefarzt zufrieden sei. Schon ist er durch Wärter, die zugleich Wächter sind, abgesperrt; er ist Gefangener.
Ich dachte an unser Kamingespräch in Vaux über die Stoa und darüber, daß das Todestor den Menschen immer offenstehe und daß vor solchem Hintergrund entschiedenes Handeln möglich sei. Da gibt es fürchterliche Belehrungen.
Kirchhorster Blätter
Kirchhorst, 12. Januar 1945
Ernstel ist tot, gefallen, mein gutes Kind, schon seit dem 29. November des vorigen Jahres tot! Gestern, am 11. Januar 1945, abends kurz nach sieben Uhr kam die Nachricht an.
Kirchhorst, 13. Januar 1945
Der liebe Junge hat den Tod gefunden am 29. November 1944; er war achtzehn Jahre alt. Er fiel durch Kopfschuß bei einer Spähtruppbegegnung im Marmorgebirge von Carrara in Mittelitalien und war, wie seine Kameraden berichten, sofort tot. Sie konnten ihn nicht mitnehmen, brachten ihn aber kurz darauf mit einem Panzerwagen ein. Auf dem Friedhof von Turigliano bei Carrara fand er die letzte Ruhestatt.
Der gute Junge. Von Kind auf war es sein Bestreben, es dem Vater nachzutun. Nun hat er es gleich beim ersten Male besser gemacht, ging so unendlich über ihn hinaus.
War heute in der kleinen Bodenkammer, die ich ihm abgetreten hatte und in der noch ganz seine Aura war. Trat leise ein, als in ein Heiligtum. Fand unter seinen Papieren dort ein Tagebüchlein, beginnend mit dem Motto: »Der kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht.«
Kirchhorst, 14. Januar 1945
Der Schmerz ist wie ein Regen, der erst in seiner Masse abläuft, dann dringt er langsam ins Erdreich ein. Der Geist erfaßt ihn nicht mit
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