Ein abenteuerliches Herz
ein solches Gebiet zugleich die Einführung der modernen Humanität und damit die Einebnung der unerbittlichen Rangordnung des natürlichen Lebens bedeutete, das war mir gefühlsmäßig klar.
Daher mochte es wohl auch kommen, daß ich für die Persönlichkeit Stanleys so wenig Vorliebe empfand. Den dunklen Erdteil zu erhellen, die Quellen sagenhafter Flüsse zu erforschen, eine Wildnis kartenmäßig festzulegen, das besaß doch etwas Widriges. Widrig war auch das Eindringen der amerikanisch-europäischen Energie in ein solches Land. Es war kein Zufall, daß dieser Mann Reporter gewesen war; seine Berichte erhoben sich nicht über eine nüchterne Mittelmäßigkeit, und der üble Geruch des Rekordes war überall in ihnen zu spüren. Das Geheimnis der Landschaft, die Seele des wilden Menschen, das Wesen der Tiere in ihrer Eigenart und Mannigfaltigkeit, ja selbst die Gefühle des eigenen Herzens, das mit einer feindlichen, rätselhaften Welt im Kampfe steht – von all diesem bewegte kaum ein Hauch die Schilderung. Es war, als ob ein Uhrwerk den großen Kongo hinuntergetrieben wäre.
Ganz andere Kerle waren da doch die alten arabischen Sklavenhändler. Diese besaßen freilich nicht jene Energie, dafür besaßen sie Vitalität. Daher wußten sie auch, was Leben heißt in einem Lande, in dem der Überfluß des Lebens regiert. Sie waren Nachkommen Sindbads des Seefahrers, reiche und würdige Gestalten in einer magischen Welt. Dörfer zu verbrennen, Sklaven zu jagen und Köpfe auf den Sand rollen zu lassen – war denn das nicht ihr gutes Recht? Man hörte von ihnen nur in der ekelhaften Melodie der Puritaner als von Schädlingen, aber war das Bestreben, diese heiße und wilde Wiege des Lebens in eine große Fabrik zu verwandeln mit Maschinen, denen man die allgemeinen Menschenrechte zubilligte und die im übrigen die Bestimmung besaßen, fünfzig Pfund Gummi im Jahre zu liefern, nicht tausendmal teuflischer – oder, noch schlimmer, tausendmal langweiliger? Nein, man mußte sich schon sehr weit entfernen, um dem allen gründlich den Rücken zu kehren. Irgendwo, ganz tief im Innern, würde es noch große Seen, melancholische Steppen und weite Wälder geben, deren Name auf keiner Karte stand.
Afrika, das war für mich die prächtige Anarchie des Lebens, die doch unter ihrer wilden Erscheinung eine tiefe, tragische Ordnung erfüllt und nach der wohl jeder junge Mensch zu einer bestimmten Zeit Sehnsucht besitzt. Dieser Hang zur Zügellosigkeit, der andererseits eine beleidigende Gleichgültigkeit mit sich brachte, muß auch, obwohl ich so dahinträumte, deutlich zu erkennen gewesen sein, denn es gab nicht wenig Respektspersonen, denen ich, wie man so sagt, auf den ersten Blick widerwärtig war. Ich liebte die untergeordneten Gefühle nicht, und das läßt sich schwer verheimlichen.
Schon am Kopf meines ersten Zeugnisses stand die Bemerkung »Aufmerksamkeit mangelhaft«, die mich dann als eiserner Bestand die ganzen Jahre hindurch begleitete. Ich hatte eine Art des Unbeteiligtseins erfunden, die mich wie eine Spinne nur durch einen unsichtbaren Faden mit der Wirklichkeit verband. So verstand ich es, wie eine Muschel die Farben auf der inneren Seite spielen zu lassen und mich gleich für vierzehn Tage und länger in sonderbare Landschaften zurückzuziehen, die ich am Morgen mit dem Schulwege betrat und die ich noch nicht verlassen hatte, wenn mir des Abends die Augen zufielen. Es waren dies in sich geschlossene Kreise der Phantasie, deren jeweiliges Motiv unendlich variiert wurde, um eines Tages durch ein neues abgelöst zu werden. So gehörte ich der großen Klasse der Träumer an, die überall, wo es Pulte gibt, reich vertreten ist.
Ich träumte rücksichtslos und mit Leidenschaft, zu Zeiten ausschließlich, und suchte mir in jedem neuen Jahre einen recht breitschultrigen Vordermann aus, hinter dem ich mich trefflich zu verbergen wußte. Besonders an den Mathematikstunden mich noch zu beteiligen, hatte ich längst aufgegeben, und die einzige Sorge, die meine beschauliche Abgeschiedenheit störte, war die, daß man eines Tages den ganzen Umfang meiner Unwissenheit entdecken würde, die schlimmer war, als der größte Verdacht es vermuten konnte. Du lieber Himmel, welcher Unterschied bestand auch zwischen dem Beweise des binomischen Lehrsatzes und den wahrhaft ariostischen Heldentaten, die ich währenddessen verrichtete. Von jener Stunde an, in der sich durch einen mir völlig unverständlichen Vorgang plötzlich die Zahlen
Weitere Kostenlose Bücher