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Ein abenteuerliches Herz

Ein abenteuerliches Herz

Titel: Ein abenteuerliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Ludwig Arnold
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in Buchstaben verwandelten, bis zu den eisigen Wüsteneien, in denen Differentialquotienten und dreifache Integrale ein schemenhaft schweifendes Dasein führten, beschränkte sich meine ganze Tätigkeit darauf, die Klassenarbeiten abzuschreiben. Wie staunte ich, als mich manches Jahr später ein Leipziger Privatdozent allen Ernstes für gar keinen so üblen Mathematiker erklärte.
    Allerdings scheint es mir bemerkenswert, daß ich während des Abschnittes, in dem die Stereometrie im Lehrplan auftauchte, ganz unvermittelt Vergnügen beim Lösen gewisser Aufgaben empfand, was vielleicht damit zusammenhing, daß hier das plastisch Greifbare in den Vordergrund trat. Und ebenso bemerkenswert scheint es mir, daß dieses Vergnügen mich befähigte, mir die unumgänglichen Hilfsmittel, die jahrelang für mich ohne Sinn gewesen waren, binnen wenigen Tagen anzueignen. Der Mensch wird zwar erzogen, aber er bildet sich selbst. So kommt es auch, daß der Reiz des Lernens uns so oft erst aufgeht zu einer Zeit, in der wir fähig sind, unser eigener Lehrer zu sein. Aber der Geist geht niemals müßig, denn Geist und Müßiggang schließen sich aus; und wo Geist ist, da wird nach Nahrung gesucht. Was werden soll, das wird, und so mancher schlechte Schüler hat schon in drei Nächten aus dem »Robinson Crusoe« mehr gelernt, als sein Schulmeister sich träumen ließ.
    Bücher waren es auch, die meiner Phantasie den Rückhalt einer festen Reservestellung boten. Auf ihre Hilfe war schon früh Verlaß gegenüber den Zugriffen des Alltäglichen; und sicher trugen sie die Hauptschuld daran, daß mein Mathematiklehrer mein Phlegma als ein unüberwindliches, ja fast unerklärliches bezeichnete, welches Wort aus diesem Munde viel heißen wollte. Allerdings irrte er sich hinsichtlich der Art meines Temperaments, das vielmehr von der Natur war, die der Franzose bei Frauen die falsche Magerkeit zu nennen pflegt – Fülle war wohl vorhanden, aber sie versteckte sich überall, wo das Leben ihr nicht in der Form von Bildern entgegentrat.
    Auch hegte ich einen persönlichen Groll gegen diese hagere Oberlehrergestalt, die mir schon wegen ihrer sehr blassen, stets mit einigen Spritzern roter Tinte gezeichneten Hände und des ewigen Grau ihrer Anzüge, das sicherlich als Schutzfärbung gegen den Kreidestaub dienen sollte, unbehaglich war. Ich haßte, ohne weiter darüber nachzudenken, einen einfältigen Stolz, der sich damit zu brüsten liebte, daß eine Linie lediglich und beileibe nichts anderes als »etwas Gedachtes« und dieser Kreidepunkt nur das Hilfsmittel sei, um ein wirkliches und wahrhaftiges Nichts zu veranschaulichen. Der Begriff der Unendlichkeit wurde durch den geistreichen Satz erklärt: »Es liegt an keinem Punkte der Zahlenreihe ein hinreichender Grund vor, nicht noch Eins zuzuzählen«, kurz die ganze anschauliche und greifbare und damit auch die unbegreifliche Welt wurde einem Verfahren unterzogen, das an das Laugebad erinnert, in dem der Anatom das Fleisch von den Knochen kocht.
    Demgegenüber bildeten Bücher, besonders als ich noch sehr schutzlos und auf das Mittel des passiven Widerstandes angewiesen war, einen prächtigen und uneinnehmbaren Wall. Zu der Zeit, von der hier die Rede ist, war der erste wütende Hunger schon vorüber, durch den ich, ohne es zu beabsichtigen, den Grund zu der verbreiteten Untugend legte, die man bei uns zulande als Belesenheit zu bezeichnen pflegt und die zu den gefährlichsten Fußangeln gehört, die auf dem Wege zur Bildung verborgen sind. Es war jener Heißhunger, der selbst Steine und Leder schluckt, um sich zu sättigen, und bei dem die Masse leicht den feineren Geschmack für Unterschiede und Werte schon in der Anlage erstickt.
    Trotzdem fühle ich mich allen Leuten zu Dank verpflichtet, deren Aufgabe im Geschichtenschreiben besteht. Ich nehme keinen aus und könnte mir nichts denken, was ich zu seiner Zeit nicht gelesen haben möchte. Las ich doch während der Religionsstunden selbst das evangelische Kirchengesangbuch durch, besonders aber die Greuel während der Belagerung von Jerusalem unter Titus, die hinten angeheftet waren und sich sehr unauffällig studieren ließen. Glückliche Zeiten trotz allem, in denen das Was noch wichtiger war als das Wie und in denen der Erdball sich abenteuerlich bevölkerte, freilich mit Gestaltungen ohne Maß und Harmonie, im tollen und abgeschmackten, peruanischen Tempelfriesen vergleichbaren Gewirr, aber doch mit Wesen und Taten, die sich nicht um die Achse

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