Ein abenteuerliches Herz
an jene Zeit kurz vor dem Kriege zurück, in der ich eines Tages meine Schulbücher über die nächste Mauer warf, um nach Afrika zu ziehen. Der Dreißigjährige kann sich nicht entschließen, die Unverfrorenheit des Sechzehnjährigen zu mißbilligen, die auf die Tätigkeit von zwei Dutzend Schulmeistern verzichtete und sich über Nacht eine eindringlichere Schule verschrieb. Es entzückt ihn vielmehr ein früher, instinktiver Protest gegen die Mechanik der Zeit; und er erinnert sich eines einsamen Paktes, der durch eine geleerte Burgunderflasche besiegelt wurde, die er an einem Felsblock des Hafens von Marseille zerschmetterte.
Ich rufe jene Tage des frühen Juni in das Gedächtnis zurück, in denen sich bereits die volle Gewalt des Sommers zusammenfaßt und in denen doch das Laub sein erstes Lichtgrün noch nicht ganz verloren hat, das sich von Monat zu Monat dunkler tönt bis zur metallischen Schwärze des Stahls, auf dem sich endlich der bunte Rost des Herbstes niederschlägt. Der Himmel war blau und golden, von keinem Federwölkchen getrübt, und der Geruch der blühenden Bergwiesen jenseits des Flusses, die vor dem Schnitte standen, drang bis in die Stadt. Das Gymnasium schloß seine Pforten oft schon um elf Uhr, und das Gefühl der Festfreude, diesem zweiflügligen, sehr ernsthaften Gebäude aus gelbem Ziegelstein zu so guter Zeit den Rücken kehren zu dürfen, war um so höher, wenn es eine Mathematikstunde war, die dem Eingriff der Hitze zum Opfer fiel.
Schon beim Aufstehen, wenn die warme Luft aus dem Garten durch das Fenster meines Schlafzimmers wie durch den Rost eines großen Ofens drang, pflegte mein erster Blick dem Thermometer zu gelten, und der Gedanke, daß sie wohl nicht umhin können würden, ausfallen zu lassen, erweckte jedesmal meine Heiterkeit.
Gewiß erinnern wir alle uns gern solcher Tage, deren erster Gedanke ein heiterer war. Die frühen Sonnenstrahlen, die Mannigfaltigkeit des draußen erwachenden Lärms, das Zimmer, seine Möbel und selbst seine Wände, dies alles scheint von einem neuen Sinn erfüllt, der uns ganz und gar umgibt und mit jedem Atemzuge tiefer durchdringt. Die Entdeckung, daß das Leben aus seiner Nüchternheit herausgetreten ist, strahlt auf seine kleinsten Einzelheiten aus, und mit Erstaunen bemerken wir das Vergnügen, das darin liegt, eine Krawatte zu binden oder den Hausgenossen Guten Morgen zu wünschen.
Mit sechzehn Jahren gar besitzt diese Fröhlichkeit, die uns zuweilen beglückend überfällt, ihren besonderen Reiz. Sie ist zwar nicht mehr die ganz in sich geschlossene Freude des Kindes, dafür aber ist auch jene Zeit des Überganges vorbei, in der uns ein quälendes Mißverhältnis, das sich zwischen uns und der Welt aufwirft, bedrückt. Das Bewußtsein hat sich befestigt, und damit freuen wir uns nicht nur, sondern wir freuen uns zugleich über uns selbst.
Das uralte Städtchen, in dem ich damals lebte, war wohl dazu angetan, der Spiegel festlicher Gefühle zu sein. Ich wohnte in einem Hause, das vor Zeiten als Pachthof einer Patrizierfamilie außerhalb der Tore gelegen hatte und dem mächtige Mauern und die mit ausgezackten Eisenstäben bewehrten Fenster den Charakter einer kleinen Festung verliehen. Die Mauer, die den Garten umfaßte, war so hoch, daß nur die benachbarten Kirchtürme hineinblicken konnten, von denen mir besonders noch ein ganz einfacher, vierkantiger, den eine dunkelrote Ziegelhaube bedeckte, in Erinnerung ist. Seine Umrisse tauchen jedesmal zugleich mit dem Worte »Mittelalter« wieder in mir auf. Er war von schmalen Fensteröffnungen unregelmäßig durchbrochen, und die Art ihrer Anordnung gab ihm ein fast menschliches Gesicht. Es war ein sehr seltsames Mittelalter, das da zuweilen des Abends hereinblickte, sehr fern und doch vertraut wie der verwehte Klang von Glocken, den man an Sonntagvormittagen in der Einsamkeit der Wälder vernimmt. Manchmal, während der kurzen Pause, in der der Wind schlafen geht, wenn der Raum ausgestorben und fast luftleer schien, leuchtete die rote Kuppe satter auf vor dem blaßgrünen Streifen, der die Nacht anzukünden pflegt. Wenn dann von den mit breiten Steinplatten belegten Wegen des verwilderten Gartens mein Blick auf diesen durch die Mauerkrone halb abgeschnittenen Sonderling fiel, war es mir nicht anders, als ob sein Sockel einer vergangenen, zauberhaften Landschaft entwachsen müßte, und ich entsinne mich noch recht gut des schmerzlichen Gefühls, das mich in solchen Augenblicken ergriff. Ich
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