Ein allzu braves Maedchen
mit sich.«
»Na und?« Sie bewegte sich nicht mehr und musterte die Ärztin wieder. »Ich hatte wieder so einen furchtbaren Traum.«
»Erzählen Sie bitte.«
»Ich stand an der Kasse im Supermarkt, und das Band war total vollgeladen. Da bemerkte ich plötzlich, dass ich gar kein Geld dabeihatte. Hinter mir war eine Riesenschlange, die Leute haben gegafft und getuschelt, und da bemerkte ich, dass ich nackt war. Ich hatte nichts an. Alle haben mich ausgelacht.«
»Sie haben gesagt, dass Sie Probleme haben, unter Leute zu gehen. Da ist so ein Traum erklärbar.«
»Einkaufen ist für mich die reine Pest. Ich werde an der Kasse immer fast ohnmächtig, wenn hinter mir eine Schlange ansteht. Mich quält der Gedanke, dass alle denken: ›Gott, ist die langsam‹, und noch schlimmer finde ich, wenn die Leute gucken, was ich gekauft habe. Wenn die so in mein Leben dringen mit ihren Blicken. Klopapier zum Beispiel kaufe ich immer nur im Zweierpack, damit es nicht so auffällt. Das lege ich dann ganz vorne hin, damit ich es gleich in die Tüte stecken kann. Genauso mit Tampons. Ich schäme mich in Grund und Boden, was ja eigentlich eher komisch ist bei meinem Beruf.
Damit ich nicht auffalle, kaufe ich auch immer woanders ein. Das ist ganz schön mühsam, wenn ich nach der Arbeit noch durch die halbe Stadt muss, um mich einzudecken.«
Sie lächelte resigniert.
»Mit sechzehn hab ich in den Ferien mal in einem Supermarkt an der Kasse gearbeitet. Das hat echt Spaß gemacht. Ich hab massig Kohle verdient, weil ich die kleineren Beträge gar nicht erst eingetippt habe. Das Geld bar abkassiert und eingesteckt. Den Knaller landete ich an Ostern. Meine Mutter musste arbeiten, und ich wollte meine Freunde richtig toll bekochen. Packe also drei Tüten voll und will damit abends nach Hause gehen. Dummerweise stand Hubert, der Filialleiter, an der Tür und versperrte mir den Weg, weil er den Kassenbon sehen wollte. Da wurde mir echt anders, und ich habe mich schon mit einem Bein im Jugendknast gesehen. Mein Problem ist, dass ich überhaupt nicht lügen kann. Das liegt wahrscheinlich daran, dass meine Tagesmutter immer gesagt hat, es raucht hinter meinem Kopf, wenn ich geschwindelt habe. Das konnte ich ja schlecht nachprüfen, weil ich hinten keine Augen habe. Jedenfalls klappt das mit dem Lügen grundsätzlich bei mir nicht. Ich sehe es schon immer vor mir, was dann passieren wird. Damals war es auch so. Ich sah Hubert sofort an, dass er mir nicht glaubte. Ich sagte dann: ›Ach, Mist, ich hab den Zettel verloren. Dann lass ich lieber alles hier, sonst sieht es noch so aus, als ob ich klauen würde.‹ Er guckte mich nur ganz komisch an und nickte. Danach hatte ich zum Glück nur noch drei Tage Schicht. Ich fühlte mich ständig beobachtet und konnte an der Kasse nicht mehr bescheißen. Das hat sich dann nicht mehr wirklich rentiert.«
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Bald hatte man sie gefunden. Es war nicht besonders schwierig gewesen, eine Verbindung herzustellen zwischen der jungen Frau und dem zurückgelassenen Wagen in Grünwald. Der diensthabende Kommissar setzte sich mit der Klinik in Verbindung und wurde an die Psychiaterin Dr. Minkowa verwiesen. Fingerabdrücke, die sich im Zimmer der jungen Frau befanden, wurden mit denen am Tatort verglichen. Die Übereinstimmung lag bei hundert Prozent. Manuela Scriba, die junge Frau, sollte weiterhin in Behandlung bei Dr. Minkowa bleiben, da die Psychiaterin bei der Patientin Vertrauen genoss. Das würde schwer durchzusetzen sein. Aber die Ärztin war überzeugt davon, dass die junge Frau sich vorerst keiner weiteren Person öffnen würde. Nun galt es, sie zu stabilisieren und gemeinsam mit ihr die Ereignisse in Grünwald zu enträtseln. Hatte sie den alten Mann getötet? Oder war sie an seinem Mord beteiligt gewesen? Welches Motiv aber könnte es für eine solche Tat geben?
MITTWOCH
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Die junge Frau wurde in die forensische Psychiatrie verlegt. Sie kam mit dem Ortswechsel nicht zurecht, die fremden Menschen ängstigten sie. Wie erwartet, ignorierte sie die neue Ärztin, die nun für sie verantwortlich war. Vielleicht war sie auch einfach überlastet. Nach langem Hin und Her bekam Dr. Minkowa die Genehmigung, sich weiter um ihre Patientin zu kümmern. Aber auch sie hatte Schwierigkeiten, an die verstörte junge Frau heranzukommen. Oft beendeten sie die Stunde, ohne dass die Patientin Notiz von ihrem Besuch genommen hätte. Sie wiegte ihren Körper hin und her und schien in einer anderen Welt versunken
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