Ein allzu braves Maedchen
zu sein.
Dann wieder brach sie unvermittelt in Weinen aus und rief, man solle sie allein lassen, sie könne niemanden um sich haben.
Draußen war es inzwischen bitterkalt, und die Menschen sehnten den Schnee herbei. Da begann die junge Frau wieder zu reden: »Weihnachten verbringe ich immer allein. Ich mach mir dann immer selbst Geschenke, die pack ich dann schön ein und leg sie neben eine Kerze. Ich erinnere mich an Weihnachten immer daran, wie das Fest war, als meine Eltern noch lebten. Einmal musste meine Mutter am Vierundzwanzigsten arbeiten, das war schrecklich, weil mein Vater nicht mehr wusste, was Weihnachten ist. Sie hatte mir einen winzig kleinen Tannenbaum geschmückt, damit ich nicht so traurig wäre, und unter dem Baum stand unsere Krippe. Normalerweise hab ich immer mit den Figürchen gespielt, aber diesmal musste ich auf meinen Vater aufpassen. Ich hab die Kerzen angezündet, uns Wurststullen gemacht und meinen Vater gerufen. Mein Vater kommt rein, sieht den Baum und sagt: ›Na, das sieht ja prachtvoll aus.‹ Ich habe geantwortet: ›Ja, Papa, es ist Weihnachten‹, und hab ihm das Päckchen von meiner Mutter in die Hand gedrückt. Ich habe in dem Jahr einen Kassettenrekorder bekommen. Mit Mikrofon. Ich wollte Hörgeschichten aufnehmen. Gruselige, mit Geistern und Türenquietschen und krächzenden Raben. Kam aber nicht dazu, weil mein Vater seine neuen Pantoffeln in Windeseile ausgepackt hatte und die Handschuhe auch. Ich selbst hatte ihm einen krummen Schal gestrickt, den hat er aber nie getragen. Jedenfalls wollte er auch nichts essen und hatte schlechte Laune, weil er nicht fernsehen durfte. Ich wollte auf gar keinen Fall an Weihnachten fernsehen. Allein mit meiner Mutter war es immer so schön gewesen, sie hat dann Heringssalat gemacht, und wir hatten zusammen in die Lichter geguckt und geredet.
Irgendwann hab ich klein beigegeben und ihm die Glotze angemacht. Er saß etwa zehn Minuten davor, stand dann auf und untersuchte die Fenster, er wollte raus. So ging das ewig. Ich saß die ganze Zeit auf dem Sofa neben dem Weihnachtsbaum und hoffte, dass die Nacht ganz schnell vorbeigehen würde. Dauerte aber. An dem Abend hab ich ihn überhaupt nicht ruhiggekriegt. Später hab ich dann mein Springseil geholt und ihn an seinen Sessel gebunden. Es war für uns beide das Beste, weil endlich Ruhe herrschte und ich nicht mehr solche Angst davor haben musste, dass er mich irgendwann verhauen würde. Als ich ihn später am Abend losband, war auf dem Sessel ein riesiger Urinfleck. Ich hab ihn deswegen auch geschimpft, wie ich das immer bei meiner Mutter mitbekommen hatte. Er sollte ja schon wissen, dass man das nicht macht, aber ich glaube, da war schon alles zu spät mit seinem Kopf.
Ich hab ihn anschließend gebadet und gecremt und ihm die Haare gekämmt und die Zähne geputzt, so wie immer, aber noch ein bisschen schöner, weil doch Weihnachten war und ich nicht wusste, ob der liebe Gott zuguckt. Die Nacht war dann ganz furchtbar, obwohl ich ihm eine Überdosis Valium verabreichte. Die ganze Nacht bin ich hinter ihm hergerannt, und als er in den Morgenstunden auf mich losging, habe ich so laut um Hilfe geschrien, bis die Frau, die über uns wohnte und der das Haus gehörte, mir zu Hilfe eilte. Auf sie hat er gehört, hat sich hingelegt und ist sofort eingeschlafen. Das fand ich sehr ungerecht.«
3
2
Die Möglichkeit, dass sie einer Mörderin gegenübersaß, veränderte Dr. Minkowas Beziehung zu der jungen Frau, die jetzt Manuela Scriba hieß. Sie versuchte, unvoreingenommen zu sein und die Therapie unbeirrt weiterzuführen.
»Erzählen Sie von den Männern, die Ihnen mehr bedeuteten in Ihrem Leben.«
Die Patientin überlegte.
»Na ja, einer war ganz okay. Der war viel älter als ich, so um die fünfzig. Ich hab ihn mit neunzehn kennengelernt. Während der Arbeit. Er war Stammkunde in der Kneipe, in der ich gejobbt habe. Ein Schriftsteller. Hat er mir zumindest erzählt, aber solange wir zusammen waren, wurde nichts veröffentlicht. Jedenfalls hat er nachts immer nur wie verrückt auf seine Schreibmaschine eingehämmert.
Ich mochte das Geräusch sehr. Mein Vater hat auch immer getippt, als er es noch konnte, weil er unbedingt seine Autobiografie vor seinem Tod fertigstellen wollte. Aber über die ersten zehn Seiten ist er nie hinausgekommen. Er hat jeden Tag vergessen, dass er schon zehn Seiten geschrieben hatte, und immer wieder von vorn begonnen. Also bei seiner Geburt. Am Ende gab es über
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