Ein allzu braves Maedchen
reden.«
Sie stockte. Offensichtlich war sie selbst überrascht davon, diesen Satz ausgesprochen zu haben.
»Hatten Sie, bevor Sie mit Ihrer Mutter zu Ihrem Vater gezogen sind, viele Freundinnen? Glauben Sie, dass Sie vor dem Umzug glücklich waren?«
»Keine Ahnung.« Sie überlegte. »Doch. Ich war eigentlich schon glücklich. Ich war frei. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Rausgehen, wenn ich dazu Lust hatte, heimkommen, wann ich wollte. Bis auf die festen Essenszeiten bei meiner Tagesmutter. Da war sie erbarmungslos.
Freundinnen hatte ich schon auch, aber die anderen Eltern wollten vielleicht auch lieber Kinder im Haus, mit deren Eltern sie mal abends zusammensitzen konnten. Meine Mutter hat sich da immer vor gedrückt. Die empfand ihr Leben ohne Mann als Makel. Waren auch andere Zeiten früher, war sicher nicht leicht für meine Mutter, nein, ganz sicher nicht.«
»Haben Sie sehr darunter gelitten? Fühlten Sie sich benachteiligt?«
»Nein. Ich fühlte mich da noch von meiner Mutter geliebt, obwohl ich sie selten gesehen habe. Mehr brauchte ich nicht zum Leben. Ich hätte mir auch die Liebe meines Vaters gewünscht. Ich hab ihm das übel genommen, dass er mich nicht kannte, dass er mich nicht kennenlernen wollte, als wir noch nicht bei ihm lebten. Später war es dann zu spät.«
Sie hielt einen Moment inne, bevor sie weitersprach: »Hätte ich ihn nie kennengelernt, hätte er sicher nicht so eine Macht über mich.«
Dr. Minkowa sah sie ernst an. »Hat er noch immer Macht über sie?«
»Ja, das hat er. Sehr große.«
MONTAG
2
8
»Ich hab ihm wehgetan. Ihn geschlagen, als er sich nicht mehr wehren konnte. Einmal, als er unbedingt tagsüber ins Schlafzimmer wollte, um meine Mutter aufzuwecken, habe ich ihm so in die Eier getreten, dass er ohnmächtig zusammengeklappt ist. Manchmal hab ich ihn mit dem Springseil an den Sessel vor dem Fernseher gebunden, damit er nicht ständig alles kaputt machte.
Ich konnte nicht mal meine Hausaufgaben nach der Schule machen, weil er einem keine Ruhe ließ und mich ständig beschimpfte, ich solle ihm die Türen aufschließen. Das Problem war nur, schloss ich ihm die Türen auf, war er weg, und dann bekam ich wieder Ärger mit meiner Mutter. Am schlimmsten war die Zeit, als er nicht mehr wusste, wo man reinpinkelt. Er pinkelte ständig, überallhin, nur nicht ins Klo.«
Die junge Frau brach ab. Eine Träne lief an ihrer Wange hinab. Sie wischte sie rasch mit dem Handrücken weg. Anscheinend wollte sie nicht weinen.
»Nachts rannte er durch die Wohnung, weil er sich eingenässt hatte, bis ich aufstand, um das Bett neu zu beziehen und ihm ein frisches Nachthemd anzuziehen. Ich war damals ungefähr elf Jahre alt, und ich hätte das alles wahrscheinlich besser gemacht, wenn er noch meinen Namen gewusst hätte oder überhaupt, dass ich seine Tochter war. Aber er kannte nur meine Mutter. Das hat mich eifersüchtig gemacht, denn ich kümmerte mich ja genauso viel um ihn und wischte genauso viel Pisse weg. Und ich mochte ihn nicht, weil meine Mutter sich nur noch um ihn kümmerte, wenn sie mal freihatte. Er drängte sich immer in den Vordergrund, und manchmal bezweifelte ich, ob er wirklich so krank war oder ob er sich nur in den Vordergrund spielen wollte, um mir eins auszuwischen.«
Es wurde dunkel im Zimmer. Draußen begann es zu regnen, und ein paar Tropfen klatschten gegen die Scheibe des Fensters.
»Er mochte mich nämlich auch vor seiner Krankheit nicht. Ich war aus Versehen entstanden, also ein Unfall, und er blieb bei seiner alten Familie, ohne sich um uns zwei zu kümmern. Als dann die erste Ehe zerbrach, kamen wir an die Reihe. Da war ich aber eben schon acht und kannte ihn nicht, und ein Jahr später war er schon in seiner eigenen Welt.« Sie lächelte. »Ich lerne immer Nummernschilder auswendig, wenn ich unterwegs bin, weil ich mal gelesen habe, dass das Trainieren des Gedächtnisses einen vor dieser Krankheit bewahrt. Außerdem, denke ich, kann ein Autonummerngedächtnis einem gute Dienste leisten, wenn zum Beispiel mal ein Unfall passiert und einer Fahrerflucht begeht. Man weiß ja nie, was alles passieren kann. Ich versuche immer auf alles vorbereitet zu sein, damit mich nichts mehr überraschen kann.«
»Wie sieht das praktisch aus, was tun Sie dafür?«
»Zum Beispiel räume ich immer penibel meine Wohnung auf, bevor ich ausgehe. Damit im schlimmsten Fall keiner denken kann: Mann, war das eine Schlampe. Und auch wenn ich nicht von
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