Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
Vom Netzwerk:
Türen in unserer Wohnung waren aus geriffeltem Glas, nur außenrum ein Rahmen aus Holz. Das war manchmal gruselig, weil Gesichter dahinter immer so verzerrt aussahen … Dann das Schlurfen seiner Schritte. In den letzten zwei Jahren konnte er seine Füße beim Gehen nicht mehr heben. Das Geräusch seiner Schritte verfolgt mich bis heute.«
    Sie hielt inne, schloss die Augen und atmete tief durch. Dann setzte sie sich aufrecht hin, als müsste sie alle Kraft zusammennehmen, um fortzufahren.
    »Kurze Zeit später erscheint seine Silhouette hinter der Kinderzimmertür. Das hatte er sich gemerkt, dass hinter der Tür jemand schlief. Wenn er auch sonst nichts mehr wusste. Er klopft an das Glas und ruft um Hilfe, in so einer komisch hohen Stimmlage, die gar nicht zu einem Mann passt. So verängstigt und trotzdem unerbittlich.
    Es war ihm egal, dass er mich nicht erkannte, wenn ich ihn wieder ins Bett schob. Er war nur froh darüber, dass jemand gekommen war, bei dem er sich über die verschlossenen Türen beschweren konnte. Aber das war nicht ich. Es gab und gibt mich nicht. Denn er wusste ja nicht, wer ich bin. Es hat mich in seinen Augen nie gegeben.
    Am Ende, kurz bevor er starb, hat er es nicht mehr geschafft, sich anzuziehen. Er hat einfach vergessen, wie das geht. Dann stand er manchmal nackt vor meinem Bett, mit nichts an außer seiner Schlafmütze und der Krawatte.
    Manchmal, wenn ich versuche, alten Männern einen zu blasen, ist mir noch heute zum Heulen. Weil zwischen meinem Vater und den anderen nackten Männern kein Unterschied ist.
    An all diese Träume und Erinnerungen denke ich, als ich meinen Mini am Gehsteig der Straße parke. Ich bleibe noch kurz sitzen, weil ich mich an das Ende des Traums erinnern möchte. Das gelingt mir nie. Das vorläufige Ende ist das, wo er nackt vor meinem Bett steht, mich kurzsichtig durch die dicken Gläser seiner Brille beäugt und die Hand nach mir ausstreckt. Da wache ich jedes Mal auf. Das macht mich fertig. Weil ich nicht weiß, ob er mich kriegt.«
    Draußen krachte eine Tür ins Schloss, und jemand rief etwas, dann war es still. Manuela Scriba schien nichts zu bemerken, sie war in ihre Erinnerung eingetaucht und konzentrierte sich darauf, Worte für das
zu finden, was sie vor sich sah. Ihr Gesicht war sehr schmal und blass, ihre Stimme plötzlich leise. Fast ein Flüstern.
    »Es nieselt, was blöd ist, denn ich hatte mir die Haare eingedreht, die fallen bei der Luftfeuchtigkeit in sich zusammen. Auf meine Haare bin ich stolz. Meine Mutter hat früher immer zu mir gesagt: ›Du bist nicht wirklich hübsch, aber du hast schöne Haare und einen guten Busen, das ist es, worauf es den Männern ankommt.‹ Na ja, sie musste es wissen, sie hatte auch schönes Haar und einen guten Busen. Und, was hat es ihr gebracht?
    Das Haus sieht beeindruckend aus. Eine alte Villa inmitten eines riesigen Grundstücks. Die Gartenbeleuchtung ist eingeschaltet, denn es ist schon dunkel, als ich ankomme. Ich liebe es, im Grünen zu sein. Als ich noch ganz klein war, lebten wir auf dem Land, und ich war jeden Tag draußen. Bei Wind und Wetter. In der Nähe gab es eine Schafherde, das war für mich eine Art Familienersatz, so komisch das klingt.
    Während ich über den Kiesweg zum Haus laufe, fällt mir ein, dass ich mein Auto nicht abgeschlossen habe. Vor lauter Nachdenken hab ich einfach den Schlüssel stecken lassen. Aber dann sage ich mir, ich werde ja nicht lang bleiben, und das hier ist eine gute Gegend, eine sehr gute sogar, hier klaut doch keiner einen Mini. Ich bin noch auf der Treppe, als sich die riesige Haustür öffnet. Zwei Schäferhunde schießen bellend auf mich zu, und ich kippe fast rückwärts die Eingangsstufen runter. Ich mag Hunde eigentlich ganz gern. Ich hab ja nichts gegen Tiere. Im Gegenteil. Aber vor die Entscheidung gestellt, würde ich dann doch eine andere Todesart wählen, als mich von einem Hund zerfleischen zu lassen. Ich höre einen schrillen Pfiff, und die Hunde bleiben augenblicklich stehen und starren mich hechelnd mit glasigen Augen an. ›Geh an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten, dann tun sie dir nichts‹, ertönt eine Stimme über mir. Ich sehe einen alten Mann, der auf seinen Stock gelehnt in der Tür steht. Er wirkt ziemlich klapprig, aber sein faltiges Gesicht ist sonnengebräunt. Das spärliche graue Haar sorgfältig nach hinten gekämmt, hohe Stirn. Er trägt eine dunkelgraue Anzughose, einen hellblauen Pullover und ein gelbes Halstuch. Dazu

Weitere Kostenlose Bücher