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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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Schilderungen des Kommissars über den Zustand der Leiche. Was hatte ihre Patientin gesehen? Welche Rolle hatte sie in dieser Nacht gespielt?
    »Na ja. Am liebsten mag ich ältere Männer, die schon ein bisschen Probleme haben, die sind dann so dankbar und spendabel, wenn’s geklappt hat. Das ist zum Beispiel bei einem der Fall, der heißt Herr Schramm. Vornamen kenne ich nicht. Den muss ich immer siezen. Den wasch ich zuerst mit dem Waschlappen und öle ihn dann an den Genitalien ein. Danach massiere ich ihn und haue ihn ein bisschen, wenn er nicht gleich steht, und dann blase ich ihm einen. Herr Schramm ist sehr reinlich und duftet immer nach Eau de Cologne. Der hat mir sogar mal Blumen mitgebracht, als er zufällig von meinem Geburtstag erfuhr. Er hat mich auch schon mal gefragt, ob wir nicht mal zusammen ausgehen können, aber Escortservice mach ich nicht bei ihm, das wird mir sonst zu nah. Ich muss immer die Kontrolle behalten. Da steig ich lieber vorher aus. Das hab ich gelernt in meinem Leben. Ich mag’s gern überschaubar.«
    »Wie haben Sie die Abende verbracht, wenn Sie allein bei sich zu Hause waren?«
    »Wie?«
    »Na ja, was haben Sie gemacht? Ferngesehen? Etwas für sich gekocht?«
    »Ich hab nur fertige Sachen gegessen.«
    »Immer?«
    »Ja, das wäre mir einfach zu viel Arbeit gewesen. Außerdem kann ich ja überhaupt nicht kochen. Bei uns zu Hause gab es immer nur Gerichte, die einfach und schnell zuzubereiten waren. Wir hatten einen kleinen Gemüsegarten, und für Fleisch gab es sowieso kein Geld. Ab und zu mal Kriegsfleisch mit Nudeln von Aldi, das ist so Dosenfleisch, was sich zwanzig Jahre hält. Und sonntags Kotelett. Einmal hat mir mein Vater das Kotelett an den Kopf schmeißen wollen, aber ich hab mich geduckt, und das Kotelett flog an die weiße Wand, der Bratensaft spritzte meterweit. Meine Mutter hat geschrien wie am Spieß, das hat meinen Vater so erschreckt, dass er kurz vergessen hat, was er wollte. Aber dann ist er aufgesprungen und hat mich um den Esstisch gejagt, bis ich in den Garten fliehen konnte. Da stand ganz hinten eine riesengroße alte Linde. Wenn ich schnell genug war, habe ich sie vor ihm erreicht. Dann hangelte ich mich zum ersten Ast hoch und kletterte von dort aus rasch nach oben. Ich war ja barfuß und blitzschnell. Ich schwöre bei Gott, ich hatte so eine Todesangst vor ihm, ich hätte ihm ins Gesicht getreten und ihn runtergestoßen, wenn er mir nachgeklettert wäre.
    Ich fand das eigentlich spannend, dass wir nie genug zu essen hatten. Wir fuhren dann im Herbst zum Bauern und holten körbeweise Äpfel für den Winter. Oder ich lief mit meiner Mutter über die Kartoffelfelder, immer den großen Maschinen hinterher, die die reifen Kartoffeln einsammelten, und klaubten die übrig gebliebenen aus der Erde. Oder wir sammelten Pilze im Wald. Oder Himbeeren. Oder Holunder. Einmal bekamen wir vom Bauern ein halbes Schwein, das war am spannendsten, weil ich doch Tierärztin werden wollte. Wir mussten es auseinandersägen, was gar nicht so einfach war, und ich hab mir alles ganz genau und in Ruhe angeguckt und in kleine Beutel verpackt, die anschließend sauber beschriftet in der Kühltruhe landeten. Da hatte ich dann das Gefühl, dass uns im Winter eigentlich nichts passieren konnte, weil der Keller voll mit Vorräten war. Das war schön. Das Schlechte an den Wintern war, dass wir kein Geld für die Heizung hatten. Einmal sind die ganzen Leitungen eingefroren, und unsere Vermieterin hat uns die Hölle heiß gemacht. Danach mussten wir bei starkem Frost immer so viel heizen, dass die Rohre wenigstens lauwarm waren. Meine Mutter hatte wahnsinnige Angst, dass meinem Vater die Finger abfrieren würden, und hat ihm immer Handschuhe angezogen. Über seinem unvermeidlichen Anzug trug er zwei Wolljacken und einen Bademantel. Auf dem Kopf eine Wollmütze, die er auch nachts nicht auszog.«
    Sie verstummte. Dann sagte sie unvermittelt:
    »Ich hab ihn mal im Winter unbewusst fast umgebracht. Er wollte wohl mal wieder auf Tour gehen und ist irgendwie aus dem Bett gefallen. Im Schlafzimmer meiner Eltern herrschte immer eisige Kälte. Jetzt lag er auf dem eiskalten Linoleum. Er konnte nicht mehr aufstehen, also blieb er da in seinem Nachthemd liegen, bis meine Mutter von der Arbeit kam. Er war blau gefroren und halb tot. Meine Mutter war total hysterisch und steckte ihn gleich in die Badewanne, obwohl das eigentlich zu teuer war. Sie hat mich angemeckert, dass ich ihn nicht aufgehoben

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