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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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dem Alten vor meine Augen, wie er röchelnd und blutig auf allen vieren zur Tür kriecht, um meinen Schlägen zu entkommen. Was hat das zu bedeuten? Was ist mit mir geschehen?, frage ich mich.«
    Manuela Scriba schaut ihre Therapeutin an, als erwarte sie eine Antwort von ihr. Aber Dr. Minkowa ist erfahren genug, um einfach abzuwarten. Einen Augenblick später fährt ihre Patientin mit ihrer Version der Mordnacht fort:
    »Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Boden. Ich könnte hier liegen bleiben bis zu meinem Tod, vielleicht würde mich keiner finden. Ich bin unendlich müde. Ich traue meinem Körper keine Bewegung mehr zu. Als wäre ich in kurzer Zeit um hundert Jahre gealtert.
    Aber dann sehe ich das Blut an meinem Körper wieder, und ich erhebe mich sehr langsam und schleppe mich zum Waschbecken. Ich muss doch sauber sein, darf nicht schmutzig bleiben. Da ist ein Spiegel, und ich sehe das Gesicht einer Fremden. Als hätte ich eine Maske aufgesetzt. Eine Maske aus Blut. Hell und unwirklich strahlen meine Augen daraus hervor. Oder sind es die Augen meines Vaters? Sie haben mich eingeholt. Er ist da.
    Lange stehe ich da und denke nichts. Stehe einfach da.
    Dann drehe ich mich langsam nach der Badewanne um und ziehe den Stöpsel raus, damit das unbenutzte Wasser abfließen kann.
    Ich stehe da und beobachte den sich immer schneller drehenden Strudel. Wie er sich tapfer in immer kleiner werdenden Wirbeln dreht, bis er endlich gurgelnd und kraftlos vom Abfluss verschlungen wird.
    Ich hocke mich in die leere Badewanne, nehme den Duschkopf aus der Halterung und brause mich mechanisch ab. Kratze das Blut mit solcher Kraft von der Haut, dass sich rote Striemen bilden.
    Lange sitze ich da. Dann erhebe ich mich und trockne mich ab. Ich erinnere mich daran, dass mein Kleid und der Mantel noch im Schlafzimmer liegen.
    Also gehe ich zurück.
    Ich trete nah an ihn heran und sehe dem alten Mann ins Gesicht. Die Augen sind weit aufgerissen, als würden sie etwas für uns Unsichtbares erblicken, der Mund ist geöffnet. Die Hände wie Krallen, als hätte er im Todeskampf versucht, sich an das Leben zu klammern. Wer ist dieser Mensch? Ich fühle nichts, bin wie betäubt. Und irgendwie kommt mir diese Empfindung bekannt vor. Als sei das mein ursprüngliches Wesen und das Bunte in meinem Leben nur Traum.
    Ich ziehe mein Paillettenkleid und die Stiefel an, nehme den Mantel und gehe nach unten ins Erdgeschoss. Ich trete ans Fenster und sehe hinaus. Langsam wird es hell. Was ist in all den Stunden geschehen, die ich in diesem schrecklichen Haus verbracht habe? Wochenlang hat es geregnet, jetzt bahnen sich Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Zweige der Bäume, und das Grundstück sieht aus wie mit Gold bestäubt.«
    Sie lächelt, für einen Moment scheint sie glücklich zu sein.
    »Ich denke daran, dass die schrecklichen Dinge in meinem Leben immer in Schlafzimmern stattgefunden haben, und weiß auf einmal nicht mehr, wie ich darauf kam. Meine Gedanken schweben wie Spinnweben im Wind, und wenn ich danach greifen möchte, gelingt es mir nicht. Als befände ich mich in einem Traum und gelangte nicht ans Ziel.
    Auch das Aufbrechen der Wolkendecke am frühen Morgen lässt etwas in mir erklingen. Etwas hat sich verändert. Ich kenne mich nicht mehr. Ich bin mir selbst fremd. Und dem Ort, an dem ich bin.
    Ich beobachte zwei Amseln, die auf dem Ast eines Strauchs sitzen, wie sie miteinander flirten. Das Männchen ist sehr aufgeregt und macht sich viel größer, als es in Wirklichkeit ist, plustert sein Gefieder auf. Das Weibchen sieht aus, als würde es sich zu Tode langweilen. Es putzt sein Gefieder und reibt den Schnabel an einem Ast.
    Meine Mutter hat mir mal zwei Dompfaffen geschenkt. Fridolin und Fridoline. Die Vögel waren zahm, und im Sommer stellte ich sie bei schönem Wetter in den Garten, damit sie ein bisschen Sonne und Gesellschaft hatten.
    Als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, war das Türchen des Käfigs geöffnet, und die Tiere waren weg. Ich weiß noch, dass ich fassungslos in allen Ecken des Käfigs nach ihnen suchte, in der Hoffnung, sie seien womöglich nur geschrumpft.
    Meine Mutter schlief, und als ich wenig später auf meinen Vater traf, der durchs Blumenbeet geisterte, wusste ich sofort, dass er das Türchen geöffnet hatte. Ich musste ihm nur in seine Augen sehen. Da brauchte es keine Worte mehr. Ich glaube, dass ich durch ihn meine Sprache verloren habe. Wenn Sprache keinen Sinn mehr macht, lässt

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