Ein allzu schönes Mädchen
Stand der Ereignisse
informieren.»
«Kommen Sie», sagte Marthaler. «Gehen wir ein paar Meter ins Freie. Ich habe Lust zu rauchen.»
Sie traten zwischen den Bäumen hervor und nahmen den schmalen Asphaltweg, der zwischen dem Wald und den Kleingärten verlief.
Marthaler zog die Packung hervor und hielt sie Eissler hin. Der Polizeipräsident lehnte zunächst ab, überlegte es sich dann
aber anders. Marthaler gab ihm Feuer. Eissler sog den Rauch tief ein und blinzelte verschmitzt wie ein Junge, der heimlich
hinter der Schule eine Zigarette raucht.
Als Marthaler mit seinem Bericht zu Ende war, machten sie kehrt und gingen langsam zurück in Richtung Goetheturm.
«Wenn ich richtig verstehe», sagte Eissler, «hängt also alles davon ab, ob die beiden Asiatinnen sich dort oben befinden oder
nicht.»
«Ja», antwortete Marthaler. «Aber wie es aussieht, werden wir das vorerst nicht herausbekommen.»
«Was also schlagen Sie vor?»
«Es gibt nur eine Möglichkeit. Wir müssen abwarten.»
«Ihnen ist hoffentlich klar», sagte Eissler, «dass jede Stunde, in der wir nichts tun, uns zunehmend in Erklärungsnot |360| bringt. In einer solchen Lage erwartet die Öffentlichkeit zu Recht, dass die Polizei handelt.»
In diesem Moment läutete Marthalers Telefon. Er entschuldigte sich und trat ein paar Meter zur Seite. Der Anruf kam aus der
Telefonzentrale des Präsidiums.
«Gerade hat ein Mann für Sie angerufen», sagte der Telefonist. «Er sagt, er sei einer der Zeugen, die Sie heute Nachmittag
auf dem Parkplatz am Goetheturm vernommen hätten. Ich soll Ihnen ausrichten, er habe die beiden Japanerinnen zufällig auf
dem Römerberg wieder getroffen. Er habe sogar mit ihnen gesprochen. Es seien zweifelsfrei die beiden Frauen, die auf dem Turm
gewesen sind.»
«Was heißt das: Er hat mit ihnen gesprochen? Kann der Mann Japanisch?»
«Ich weiß nicht», sagte der Telefonist. «Mehr hat er nicht gesagt. Ich habe mir seinen Namen und seine Nummer notiert. Vielleicht
hat er Englisch mit den beiden gesprochen.»
«Ja», sagte Marthaler. «Das kann sein. Danke.»
Ihm war sofort klar, was diese Information bedeutete. Einen Moment lang war er versucht, sie dem Polizeipräsidenten vorzuenthalten.
Später würde er sich vorwerfen, dieser Versuchung nicht nachgegeben zu haben.
Marthalers ganze Argumentation gegenüber Eissler war darauf aufgebaut gewesen, dass eine Erstürmung des Turms zu gefährlich
sei. Dass dadurch möglicherweise das Leben zweier Geiseln gefährdet würde. Jetzt war dieses Argument mit einem Schlag hinfällig
geworden. Eisslers Reaktion kam wie erwartet.
«Also gibt es keine Geiseln?», sagte der Polizeipräsident, als Marthaler ihm den Inhalt des Telefonats wiedergegeben hatte.
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
«Sieht so aus», sagte Marthaler.
«Das heißt, wir werden unverzüglich stürmen.»
|361| «Ohne mich», sagte Marthaler.
Er war sich bewusst, dass er mit dieser Antwort womöglich einen neuerlichen Wutanfall des Polizeipräsidenten provozierte.
Doch Eissler schien vorbereitet gewesen zu sein auf den Widerstand seines Hauptkommissars. Er hatte sofort einen Vorschlag
zur Hand.
«Schließen wir einen Kompromiss», sagte er. «Wenn Sie Plöger in fünf Stunden nicht haben, werde ich dem SEK den Einsatzbefehl
geben.»
Marthaler hatte nur zwei Möglichkeiten. Entweder er stimmte zu, oder er war raus aus dem Fall. Trotzdem wollte er sich nicht
kampflos geschlagen geben.
«Zwölf Stunden», sagte er.
Eissler lachte. Dann sah er auf die Uhr.
«O. k.», sagte er. «In der Nacht wäre ein Zugriff wahrscheinlich sowieso zu gefährlich. Zwölf Stunden. Wir telefonieren morgen
früh um Viertel vor sieben. Wenn Plöger dann nicht unten ist, bekommt er eine letzte Chance. Sie werden ihm über Lautsprecher
unsere Aktion ankündigen und ihn auffordern, den Turm zu verlassen. Um Punkt sieben fliegt unser Helikopter los.»
Sie hatten überlegt, während der Nacht nur in kleiner Besetzung vor dem Goetheturm auszuharren. Aber niemand wollte nach Hause
gehen. Alle beteuerten, sowieso nicht schlafen zu können, und so beschlossen sie, sich abwechselnd auf der Rückbank des Lautsprecherwagens
eine Weile auszuruhen.
Die Zahl der Reporter und Schaulustigen war im Laufe des Abends kleiner geworden. Einzig die lokalen Zeitungen und die großen
Fernsehanstalten hatten weiter ihre Leute vor den Absperrungsbändern postiert. Im Licht der Scheinwerfer sah
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