Ein allzu schönes Mädchen
hatte im Fernsehen gesehen, was geschehen war. Die Bilder
wurden auf allen Sendern ein ums andere Mal wiederholt. Immer wieder hörte man Marthalers Lautsprecherstimme, die Plöger aufforderte,
den Turm zu verlassen. Und immer wieder sah man Hendrik Plögers fallenden Körper.
Dann nahm Marthaler sich ein Taxi und fuhr zum Platz der Republik. Der Polizeipräsident hatte für den Mittag eine Pressekonferenz
anberaumt und darauf bestanden, dass alle mit dem Fall befassten Beamten anwesend waren. Er wollte, dass |368| alle Fragen der Journalisten von den zuständigen Kollegen beantwortet wurden. Wahrscheinlich wollte er nicht allein den Kopf
hinhalten für das, was heute Morgen am Goetheturm passiert war.
Als Marthaler den Großen Saal betrat, waren die Haustechniker noch damit beschäftigt, den Raum für die anschließende Konferenz
herzurichten. Es wurden Leitungen verlegt, Lautsprecher angeschlossen, Mikrophone getestet, Getränke bereitgestellt und zwei
Kübel mit künstlichen Blumen rechts und links des Podiums platziert.
«Herr Hauptkommissar, schön, dass Sie schon da sind.» Es war die Stimme Gabriel Eisslers. Marthaler war sich nicht sicher,
ob die Bemerkung ironisch gemeint war. Der Polizeipräsident kam hinter ihm den Gang herauf. Im Schlepptau hatte er seine Sekretärin,
den Pressesprecher und dessen beide Assistentinnen. Es sah so aus, als hätten die fünf sich bereits auf eine gemeinsame Marschroute
für ihren Auftritt vor den Journalisten geeinigt. Marthaler merkte, wie sein Ärger wieder wuchs. Er hatte gehofft, noch einen
Moment mit seinen Leuten allein sprechen zu können.
Eissler klatschte in die Hände und rief alle zusammen. Döring drückte rasch seine Zigarette auf der Fensterbank aus und schnippte
den Stummel nach draußen. Der Polizeipräsident warf ihm einen missbilligenden Blick zu, sagte aber nichts. Sven Liebmann gähnte
ausgiebig auf seinem Stuhl, bevor er sich in Gang setzte. Alle versammelten sich auf dem Podium und gruppierten sich um den
Tisch. Eissler ergriff das Wort.
«Wir haben nur eine Chance gegenüber der Presse», sagte er. Er machte eine Pause und schaute in die Runde, als erwarte er
schon jetzt Beifall für seine Idee, die er ihnen noch gar nicht mitgeteilt hatte. Der Pressesprecher lächelte und nickte.
Sonst reagierte niemand.
|369| «Absolute Offenheit», fuhr Eissler fort. «Wir müssen ihnen sagen, was wir wissen und was wir nicht wissen. Jeder gibt Auskunft,
so gut er kann. Ehrlichkeit ist in diesem Fall die beste Strategie.»
«Was soll denn das jetzt?» Kai Döring hatte seine Frage nur geflüstert. Trotzdem hatte Eissler ihn gehört.
«Und, Kollege Döring», sagte er, «ich möchte, dass wir mit einer Stimme sprechen.»
«Entschuldigung», erwiderte Döring, «wie soll das gehen? Wenn jeder von uns zehn Journalisten auf dem Schoß sitzen hat und
mit ihnen plaudert? Entweder ‹absolute Offenheit› oder ‹mit einer Stimme›. Eins von beidem geht nur.»
Marthaler erwartete einen Wutanfall des Polizeipräsidenten und war erstaunt, als dieser stattdessen mit einem Lachen reagierte.
«Sie haben völlig Recht», meinte Eissler. «Was ich sagen will: Wir müssen den
Eindruck
absoluter Offenheit vermitteln. Wir dürfen den Journalisten gegenüber keine Abwehr erkennen lassen. Es darf nicht so aussehen,
als würden wir ihren Fragen ausweichen. Die Antwort ‹Kein Kommentar› ist der einzige Kommentar, den ich nicht hören möchte.
Wir sind freundlich. Wir füttern sie mit so vielen Details, dass sie darüber jene Fragen, die wir nicht beantworten wollen,
vergessen. Jeder von Ihnen sagt, was er meint, sagen zu können. Den Rest erledige ich. Alle einverstanden?»
Alle nickten beifällig mit den Köpfen; offensichtlich hatte niemand eine bessere Strategie anzubieten. Trotzdem war Marthaler
nicht wohl bei dem Gedanken, jetzt mit unabgesprochenen Informationen an die Öffentlichkeit zu gehen. Am liebsten hätte er
noch ein paar Tage gewartet, bis sie mit ihren Ermittlungen weiter waren. Wenigstens aber, bis sie Zeit gefunden hatten, sich
untereinander über die Geschehnisse auszutauschen. So aber musste er darauf vertrauen, dass seine |370| Mitarbeiter klug genug waren, sich den Presseleuten gegenüber nicht in Spekulationen zu ergehen.
Eine halbe Stunde später war der Große Saal bis auf den letzten Stuhl mit Journalisten besetzt. Selbst entlang der Wand und
in den Gängen zwischen den Stuhlreihen drängten
Weitere Kostenlose Bücher