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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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versammelt hatten. Er schnallte sein Holster
     ab und gab seine Waffe Kerstin Henschel.
    «Gibt es Nachrichten vom Henningerturm?», fragte er.
    Berger nickte. «Ja. Unser Mann ist dort oben und beobachtet mit seinem Fernglas die Aussichtsplattform. Wir sind ständig mit
     ihm in Kontakt. Aber es tut sich nichts. Es ist niemand zu sehen. Wahrscheinlich hat sich Plöger hinter der hölzernen Balustrade
     verschanzt. Und wenn er wirklich zwei Geiseln bei sich hat, so sitzen oder liegen auch die auf dem Boden. Tut mir Leid, Robert.
     Aber wir sind genauso schlau wie zuvor.»
    Marthaler nickte.
    «Willst du nicht doch lieber mich gehen lassen?», fragte Petersen.
    «Nein», sagte Marthaler.
    Dann machte er sich an den Aufstieg. Er drehte sich nicht noch einmal um. Er beeilte sich nicht, aber er zögerte auch nicht.
     Er hatte keine Angst, obwohl er wusste, dass das, was er tat, gefährlich war. Aber sie hatten keine Wahl.
    Er zählte die Stufen. Er war verwundert darüber, dass seine Schritte nicht lauter zu hören waren. Nach ungefähr zweieinhalb
     Minuten hatte er die Hälfte der Strecke hinter sich. Er |352| war jetzt auf einer Höhe mit den Baumwipfeln. Der Himmel war klar. Er schaute hinüber zum Henningerturm und bildete sich ein,
     dort das Okular eines Fernglases in der Sonne blitzen zu sehen.
    Er ging weiter. Dann hatte er den vorletzten Absatz erreicht. Er lauschte, konnte aber nichts von oben hören. Noch zweimal
     zwölf Stufen lagen vor ihm.
    Er stieg bis zum nächsten Absatz und befand sich direkt unter der quadratischen Plattform.
    Er wusste, jetzt musste er vorsichtig sein. Er legte sich auf den hölzernen Boden. Er schob sich langsam an die unterste Stufe
     der letzten Treppe heran. Dann rief er nach oben. «Hendrik Plöger. Mein Name ist Robert Marthaler. Ich bin Polizist. Sie haben
     unser Angebot gehört.»
    Der Schuss kam augenblicklich.
    Marthaler hörte, wie das Projektil direkt neben seinem linken Ohr in einen Balken einschlug. Er zuckte zurück, wälzte sich
     ein paar Mal um die eigene Achse, um sich in Sicherheit zu bringen.
    Sein Puls ging rasend schnell. Er legte die rechte Hand auf sein Herz, als könne ihn das beruhigen. Er wartete und verhielt
     sich leise. Er behielt die Treppe im Auge, aber von Plöger war nichts zu sehen.
    Immer noch auf dem Boden liegend, näherte er sich erneut der Öffnung. «Plöger, hören Sie. Dies ist mein letzter Versuch.»
    Weiter kam er nicht. Oben huschte jemand vorbei. Im selben Moment hörte Marthaler den Knall. Auch die zweite Kugel ging ins
     Holz. Die Bodenplanke splitterte direkt neben seinem Fuß.
    Er begann unverzüglich mit dem Abstieg. Diesmal brauchte er weniger als drei Minuten. Unten erwarteten ihn aufgeregt die Kollegen.
     Sie bestürmten ihn mit Fragen.
    |353| «Noch eine Minute», sagte Döring. «Und ich wäre hochgekommen.»
    Marthaler stand erschöpft und mit hängenden Schultern zwischen ihnen.
    «Es ist alles in Ordnung», sagte er.
    Aber er wusste selbst, dass das nicht stimmte. Nichts war in Ordnung. Die Aktion war ein Fehlschlag gewesen. Noch eine Niederlage
     in diesem Fall, in dem alles schief zu gehen schien.
    Er fühlte sich wie ein besiegter Soldat. Einen Moment lang konnte er Döring verstehen. Plötzlich hatte auch er das Bedürfnis,
     den Knoten zu durchschlagen, dem Ganzen ein schnelles Ende zu setzen. Am liebsten hätte er den Befehl gegeben, den Turm umgehend
     zu stürmen. Aber er wusste, dass er diesem Impuls nicht nachgeben durfte. Es war Liebmann, der Recht hatte: Die beste und
     sicherste Waffe war Geduld. Die musste er jetzt zurückgewinnen. Ohne noch etwas zu sagen, stapfte er in den Wald.
    «Soll ich ihm folgen?», fragte Petersen.
    «Nein, lass», sagte Kerstin Henschel. «Er will allein sein. Er braucht das ab und zu.»
     
    Als Marthaler aus dem Wald zurückkam, war es 17.32   Uhr. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Telefon noch immer ausgeschaltet war.
    Er beschloss, an Ort und Stelle eine kurze, improvisierte Pressekonferenz abzuhalten. Er rief den Sprecher der Polizei an
     und teilte ihm sein Vorhaben mit. Der schien erleichtert und dankbar zu sein, diese Aufgabe nicht selbst übernehmen zu müssen.
    Als Marthaler sich dem Absperrungsband näherte, gingen die Kameras sofort in Stellung. Die Journalisten waren gierig auf Neuigkeiten.
     Sie hatten Marthalers Lautsprecherdurchsage |354| gehört und später die beiden Schüsse auf dem Turm. Aber niemand hatte ihnen die Vorfälle erläutert. Einige waren

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