Ein allzu schönes Mädchen
sich die Reporter. Die Kamerateams und Fotografen rangelten bis zum letzten
Moment um die besten Plätze. Vor dem Podium waren ganze Sträuße von Mikrophonen befestigt worden. Marthaler konnte sich nicht
erinnern, jemals einen solchen Auftrieb bei einer Pressekonferenz erlebt zu haben.
Es dauerte mehrere Minuten, bis es den Mitarbeitern der Pressestelle gelungen war, so weit Ruhe herzustellen, dass der Polizeipräsident
seine einführende Erklärung abgeben konnte. Gabriel Eissler stand auf und klopfte mit einem Kugelschreiber gegen sein Wasserglas.
Dann begann er leise zu sprechen. Er hieß die Anwesenden willkommen. Er entschuldigte sich für die bislang lückenhaften Informationen
und wies darauf hin, dass der Besuch des amerikanischen Präsidenten viele Polizeikräfte in Anspruch genommen habe. Er fasste
die Ereignisse der letzten Woche zusammen. Dann kam er auf das Geschehen am Goetheturm zu sprechen.
«Wie Sie wissen, hat sich der polizeilich gesuchte Hendrik Plöger heute Morgen um kurz vor sieben Uhr durch einen Sprung aus
43 Meter Höhe das Leben genommen. Jede Hilfe kam zu spät. Wir bedauern diesen Vorfall zutiefst. Sie werden sich womöglich die
Frage stellen, ob diese Tat nicht zu verhindern gewesen wäre. Und glauben Sie mir: Niemand stellt sich diese Frage so dringlich
wie ich. Die Antwort ist: Wir wissen es nicht. Niemand kann das wissen. Vielleicht hat der bevorstehende Zugriff des SEK seine
Entscheidung herbeigeführt, vielleicht hat er sie aber auch nur beschleunigt. Wir waren in einer Zwickmühle: Wir mussten handeln.
Ich weiß nicht, ob |371| man sagen kann, dass jemand die Schuld an diesem Vorfall trägt. Aber wenn Sie unbedingt einen Verantwortlichen finden wollen,
dann steht er hier. Ich selbst und niemand anders habe den Einsatzbefehl gegeben. Aber bevor Sie Ihr Urteil sprechen, möchte
ich Sie bitten, sich für einen Moment in unsere Lage zu versetzen. Und ich möchte Sie daran erinnern, dass nicht zuletzt Sie
es waren, die völlig zu Recht und im Namen der Öffentlichkeit gefordert haben, dass die Polizei in einer solchen Situation
ihre Handlungsfähigkeit beweisen muss.»
Gabriel Eissler machte eine Pause und schaute für einen Moment mit ernster Miene unter sich. Im Saal hörte man keinen Laut.
Dann hob der Polizeipräsident den Kopf, und jetzt sah es fast so aus, als würde ein leichtes, schmerzvolles Lächeln über sein
Gesicht huschen.
«So», sagte er, «und nun erwarte ich Ihre Fragen. Ich darf darauf hinweisen, dass sämtliche Kollegen, die an dem Fall arbeiten,
gerne für Antworten zur Verfügung stehen. Verbotene Fragen gibt es nicht. Unsere Devise heißt: Absolute Offenheit. Oder um
es mit den Worten Erich Honeckers auf dem VIII. Parteitag der SED zu sagen: Keine Tabus!»
Aus dem Saal hörte man Gelächter und beifälliges Gemurmel. Marthaler wusste, dass der Polizeipräsident mit seiner Rede die
weitaus meisten der anwesenden Journalisten zufrieden gestellt hatte. Dafür bewunderte er ihn. Er hatte jeder Kritik den Wind
aus den Segeln genommen. Wenn es ihnen gelang, das nun folgende Frage- und Antwortspiel ohne Patzer zu überstehen, durften
sie die Pressekonferenz als Erfolg werten.
Tatsächlich stellte sich heraus, dass der Hunger der Journalisten nach noch unveröffentlichten Details über die beiden Morde
so groß war, dass sie damit die nächsten anderthalb Stunden über die Runden brachten. Eisslers Strategie, die Presseleute
mit so vielen Einzelheiten zu füttern, dass sie gar |372| nicht zum Luftholen kamen, schien aufzugehen. Ohne dass einer der Polizisten dies ausdrücklich bestätigt hatte, gingen alle
davon aus, dass Hendrik Plöger seine beiden Freunde umgebracht hatte.
Fast alle.
Denn als der Pressesprecher die Konferenz gerade beenden wollte, meldete sich in der letzten Reihe jemand zu Wort. Marthaler
reckte den Kopf. Einen Moment lang entstand Unruhe im Raum. Es war ein junger Mann, der sich als Mitarbeiter der «Wetterauer
Zeitung» zu erkennen gab. Er wartete einen Moment, bis das Saalmikrophon bei ihm angelangt war, dann wiederholte er seine
Frage. Er wirkte schüchtern, und seine Stimme schien ein wenig zu zittern.
«Ist der Fall damit erledigt?», fragte er. «Ist Hendrik Plöger der Mörder? Und warum hat er seine Freunde getötet? Was hatte
er für ein Motiv?»
Marthaler hielt den Atem an. Das waren die einzig wirklich wichtigen Fragen. Und kein anderer Journalist hatte sie
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