Ein allzu schönes Mädchen
Lady-Killer bezeichnet wurde, fand Marthaler besonders unappetitlich. Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass
Georg Lohmann häufig außereheliche Affären gehabt hatte. Aber die Reporter hatten sofort herausbekommen, dass er verheiratet
und dass seine Frau schwanger war. Das hatte für die Zeitung genügt, sich das Wortspiel mit dem Lady-Killer nicht verkneifen
zu können. Und es war genau diese Art von Berichten, welche die Phantasien der Leser anheizte.
Wie immer in einem solchen Fall mussten sie die Unzahl der Hinweise filtern, die offensichtlichen Falschmeldungen von den
ernst zu nehmenden Anrufen unterscheiden, die Spinner von jenen, die womöglich wirklich etwas mitzuteilen hatten.
Sven Liebmann, der gerade telefonierte, begrüßte Marthaler mit einem Kopfnicken. Dann verdrehte er die Augen und legte auf.
«Schon wieder so ein Idiot, der behauptet, vorige Woche einige heiße Nächte mit Marie-Louise Geissler in Budapest verbracht
zu haben. Ein anderer wollte, dass wir sie zu ihm schicken, wenn wir sie gefasst haben. Er sagte, mit Messern habe er es besonders
gerne. Man glaubt nicht, wie viele verkorkste Gelüste in den Köpfen der Leute herumspuken. Noch ein paar von der Sorte, und
ich brauche erst mal ein Vollbad, bevor ich hier weitermachen kann.»
Marthaler setzte sich an den Tisch, auf dem sich die Telefonnotizen türmten. In dem großen linken Stapel befanden |414| sich jene, die von den Kollegen bereits aussortiert worden waren. In dem rechten, sehr viel kleineren, wurden die Hinweise
gesammelt, denen man noch nachgehen wollte. Ein dritter Teil war in einem Ordner abgeheftet. Es waren jene Hinweise, die man
bereits einer Prüfung unterzogen und mit entsprechenden Kommentaren versehen hatte.
«Irgendwas Brauchbares dabei?», fragte Marthaler.
«Ein paar Aussagen von Verkäuferinnen und Inhabern von Läden, wo Lohmann und Geissler im Lauf der letzten Woche eingekauft
haben. Boutiquen, Schuhgeschäfte, Juweliere. Sieht so aus, als habe Lohmann sich mächtig ins Zeug gelegt für die Kleine.»
«Und ihr Aufenthaltsort?»
Liebmann schüttelte den Kopf. «Bislang Fehlanzeige. Jedenfalls nichts, was uns weiterbringen würde. Ein Taxifahrer will sie
vorgestern vom ‹Frankfurter Hof› zum Bahnhof gebracht haben. Er ist sich hundertprozentig sicher. Dem steht die Aussage eines
Kellners aus Bad Homburg entgegen, der behauptet, sie habe um dieselbe Zeit zwei Stunden allein in seinem Restaurant gesessen.
Es bestehe kein Zweifel. Und die Verkäuferin einer Videothek aus Offenbach schwört, Marie-Louise Geissler habe sich den ganzen
Vormittag vor ihrem Laden herumgetrieben und Männer angesprochen. Ebenfalls vorgestern. Jetzt sag mir, wem ich glauben soll?»
«Wo sie gestern oder vorgestern war, darf uns im Moment nicht interessieren», sagte Marthaler. «Wir müssen uns vorerst auf
die Anrufe konzentrieren, die uns Hinweise darauf geben, wo sie sich im Moment befinden könnte.»
«Genau das tun wir», sagte Sven Liebmann, «aber es ist dasselbe Spiel. Wenn wir all jenen glauben wollten, die in der letzten
Stunde angerufen haben, dann ist sie überall, und überall gleichzeitig.»
Im selben Moment hörten sie vom Gang lautes Gezeter. |415| Eine Frau beschwerte sich darüber, wie man sie behandelte. Marthaler öffnete die Tür. Zwei uniformierte Polizisten kamen ihm
entgegen, in ihrer Mitte eine junge Frau in Handschellen. Im ersten Augenblick glaubte er tatsächlich, es handele sich bei
der Festgenommenen um Marie-Louise Geissler. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Aber er hatte in der Nacht in Saarbrücken zu
viele Fotos gesehen, um die Verwechslung nicht zu bemerken. Er schüttelte den Kopf.
«Lasst sie laufen», sagte er nur. Dann ging er zurück ins Besprechungszimmer.
«So geht das schon die ganze Nacht», sagte Sven Liebmann. «Das war jetzt die fünfte mehr oder weniger unbescholtene Frau,
die hier antransportiert wurde. Irgendwer ruft an und teilt uns mit, die Gesuchte sitze allein in einer Bar an der Theke.
Wir schicken einen Streifenwagen los, um der Sache nachzugehen. Die Frau hat keinen Ausweis dabei und wird vorläufig festgenommen.
Die Kollegen sind verunsichert. Einerseits wollen sie keine Unschuldigen belästigen, andererseits wissen sie genau, dass uns
Marie-Louise Geissler auf keinen Fall durch die Lappen gehen darf.»
Marthaler machte sich daran, die Telefonprotokolle zu sichten. Es war so, wie Liebmann sagte: Fast alle, die anriefen,
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