Ein allzu schönes Mädchen
«Ich weiß nur, dass wir in den Stadtwald kommen sollen.»
Sie fuhren über den Sachsenhäuser Landwehrweg bis zum Goetheturm. Hier begann der Wald. Der Fahrer schien sich selbst nicht
gut auszukennen, und so steuerte er das Motorrad langsam zwischen den Bäumen den Wendelsweg hinunter. Sie überholten einige
Jogger, die sich verwundert zu ihnen umdrehten. Ein paar hundert Meter weiter entdeckten sie an einem Baum das verwitterte
Holzschild: Kesselbruchschneise. Es ging noch ein Stück bergan, dann waren sie am Ziel. Zehn, fünfzehn Leute liefen außerhalb
des rotweißen Absperrungsbandes durcheinander, trotzdem war es merkwürdig ruhig. Drei Polizeiautos standen mit eingeschalteten
Scheinwerfern auf dem Waldweg. Ein paar Meter weiter sah Marthaler den Kleinbus der Kriminaltechniker und daneben einen Leichenwagen
mit geöffneter Heckklappe. Er schaute auf die Uhr. Es war zwölf Minuten vor zehn, und er ahnte, dass sein Urlaub, kaum dass
er begonnen hatte, auch schon wieder zu Ende war.
«Endlich», rief Herrmann, «Sie übernehmen das hier, ich muss augenblicklich zurück ins Präsidium. Die Kollegin Henschel wird
Ihnen alles erklären … wenn sie dazu wieder in der Lage ist. Geben Sie mir Ihren Helm.»
Der Chef der Mordkommission setzte sich auf den Rücksitz des Motorrades, mit dem Marthaler gerade angekommen war, |58| und schnauzte den Kollegen an: «Was ist? Worauf warten Sie?» Der Fahrer sah zu Marthaler und verdrehte die Augen. Dann gab
er Gas, die Maschine machte einen Satz nach vorne, sodass Herrmann, wenn er sich nicht im letzten Moment am Fahrer festgehalten
hätte, vom Sitz gerutscht und in den Schmutz gefallen wäre.
Kerstin Henschel war eine junge Polizistin, die erst vor einem halben Jahr zur Mordkommission gekommen war. Marthaler hatte
sie sofort gemocht: Sie hatte die sparsamen, konzentrierten Bewegungen einer Sportlerin. Wenn sie lachte, hüpfte ihr Pferdeschwanz
auf und ab, und man konnte sehen, dass einer ihrer Eckzähne ein wenig schief stand. Anfangs hatte sie sich, um von ihren männlichen
Kollegen ernst genommen zu werden, furchtloser und abgebrühter gegeben, als sie in Wirklichkeit war. Dann aber war sie eines
Tages zu Marthaler gekommen und hatte ihn um ein Gespräch gebeten. Dass sie kaum noch schlafen könne, hatte sie ihm gestanden,
dass das, was sie jeden Tag im Dienst zu sehen bekam, sie nachts in ihren Träumen verfolge, und dass sie glaube, den falschen
Beruf gewählt zu haben. Marthaler hatte versucht, ihr klar zu machen, dass Furcht zur Grundausstattung eines jeden Polizisten
gehöre und dass, im Gegenteil, einer, der nicht in der Lage sei, Angst oder Mitleid zu empfinden, für diesen Beruf nicht tauge.
«Stumpfe Böcke und grobe Klötze», hatte er gesagt, «gibt es in unseren Reihen weiß Gott genug.»
Er musste an dieses Gespräch denken, als er jetzt die junge Kollegin auf dem Beifahrersitz eines der Streifenwagen sitzen
sah. Er ging zu ihr. Sie war blass. Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf nach hinten gelegt. Er fragte, ob er ihr
helfen könne. Sie schaute ihn an und verneinte stumm. Ihre Hände zitterten. Marthaler sah, dass sie geweint hatte.
«Was ist passiert?», fragte er.
Sie wollte antworten, aber ihre Stimme versagte. Sie hob |59| die Hand und zeigte in Richtung der Absperrung. Marthaler nickte.
«Wir reden später», sagte er.
Er ging bis zu dem rotweißen Band und begrüßte Schilling, den Chef der Spurensicherung, der auf dem Boden hockte und mit einem
kleinen Spatel vorsichtig das Laub zur Seite schob.
«Darf ich?», fragte Marthaler.
«Ja», sagte Schilling und sah zu ihm hoch. «Aber geh bitte hintenrum, dort sind wir schon fertig. Und … mach dich auf was gefasst.»
Schilling gehörte zu jenen Kollegen, deren Arbeit Marthaler schätzte, zu denen er aber nie eine engere Beziehung hatte aufbauen
können. Obwohl sie oft miteinander zu tun hatten, hatte er nicht das Gefühl, Schilling zu kennen. Der Chef der Spurensicherung
war mittelgroß, mittelschwer und mittelalt. Das einzig Auffällige an ihm war eine Narbe auf der linken Wange, die er unter
seinem dunklen Bart zu verbergen suchte. Irgendwelche Leidenschaften oder Überzeugungen hatte er nie zu erkennen gegeben.
Es war, als müsse er die Aufregungen und Widerwärtigkeiten seines Berufs durch die größtmögliche Unauffälligkeit seines Charakters
ausgleichen.
Zuerst sah Marthaler die Schuhe des Toten, weiße Turnschuhe, deren
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