Ein allzu schönes Mädchen
Leuchtstreifen im Scheinwerferlicht der Polizeiwagen reflektierten.
Marthaler trat zwei Schritte näher und schauderte im selben Moment zurück. Der Anblick, der sich ihm bot, war auch für einen
Beamten mit seiner Erfahrung nicht leicht zu verkraften.
Er schloss kurz die Augen und atmete durch.
Das T-Shirt des Toten war zerfetzt und blutdurchtränkt, die gelbe Farbe des Stoffs war nur noch an wenigen Stellen zu erkennen. Rechts
und links des Oberkörpers waren große Mengen Blut in den Waldboden gesickert. Der Kopf der Leiche war auf unnatürliche Weise
nach hinten übergekippt.
|60| Marthaler veränderte seinen Standort um wenige Zentimeter, um das schmutz- und blutverschmierte Gesicht des Toten besser sehen
zu können.
Die Züge waren verzerrt wie die eines Menschen mit großen Schmerzen, und die Augen waren vor Entsetzen aufgerissen.
Marthaler schätzte das Alter des Mannes auf zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig Jahre. Er beugte sich ein Stück vor, und jetzt
erkannte er, dass man dem Jungen die Kehle durchtrennt hatte. Der Hals wirkte wie aufgeklappt, und in der Mitte des Schnittes
erkannte man den hellen Knorpel des Adamsapfels.
Marthaler hielt die Luft an und schüttelte den Kopf. Schilling war jetzt neben ihn getreten, hatte ihm eine Hand auf die Schulter
gelegt und schaute ihn prüfend an.
«Komm», sagte er, «trink erst mal einen Schluck Kaffee.»
Marthaler merkte, dass ihm die Knie zitterten. Er ließ sich zu dem Wagen des Kriminaltechnikers führen und sackte auf den
Beifahrersitz. Schilling schraubte seine Thermoskanne auf und reichte ihm einen Becher mit dampfendem Kaffee. Sosehr Marthaler
die abgebrühten Zyniker unter seinen Kollegen missbilligte, in diesem Moment hätte er sich ein wenig von deren Dickfelligkeit
gewünscht.
«Weiß man, wer er ist?»
Schilling schüttelte den Kopf.
«Bis jetzt nicht», sagte er. «Ausweispapiere haben wir nicht gefunden. Und es liegt keine Vermisstenmeldung vor, die auf ihn
passen würde. Herrmann hat das sofort überprüfen lassen.»
«Meinst du, man hat ihn hier umgebracht?»
Schilling nickte. «Es sieht so aus.»
«Und wann ist es passiert?»
«Irgendwann gestern Abend oder heute Nacht. Allzu lange kann es noch nicht her sein. Vielleicht zwölf Stunden, vielleicht |61| sechzehn Stunden. Länger sicher nicht. Aber wir müssen abwarten, was die Obduktion ergibt.»
«Was ist mit der Tatwaffe?»
«Wohl ein Messer. Ein Küchenmesser, möglicherweise ein Fahrtenmesser. Gefunden haben wir noch nichts. Wir haben Glück, dass
das Blätterdach der Bäume hier ziemlich dicht ist und dass die Leiche mit Laub und Zweigen bedeckt war, sonst hätte der Regen
sicher die meisten Spuren weggespült.»
«Es sieht aus, als hätte man ihn regelrecht …» Marthaler scheute davor zurück, das Wort auszusprechen, das ihm in den Sinn gekommen war.
«Es sieht aus, als habe man ihn abgeschlachtet», sagte Schilling.
Marthaler nickte.
«Kannst du dafür sorgen, dass wir ein Foto von dem Toten bekommen, das nicht allzu grässlich aussieht?», fragte er. «Es könnte
sein, dass wir eine Aufnahme an die Presse weitergeben müssen.»
Dann stand er auf und ging zu dem Streifenwagen, in dem noch immer die junge Kollegin saß.
«Wie geht’s?», fragte er.
«Geht schon wieder», sagte sie und versuchte zu lächeln. «Ich schätze, ich bin heute ein ziemlicher Ausfall.»
«Schon gut», erwiderte Marthaler, «es geht wohl keinem hier anders. Wenn ich mir so etwas jede Woche ansehen müsste, hätte
ich längst den Beruf gewechselt. Komm, wir schauen uns ein wenig um.»
Sie gingen zu dem Holzgatter, öffneten es und betraten die kleine asphaltierte Zufahrtsstraße. Auf dem Parkplatz standen jetzt
einige Autos von Leuten, die einen Spaziergang machen oder Pilze sammeln wollten. Unter ihnen brauste auf der Babenhäuser
Landstraße der Morgenverkehr.
«Wer hat ihn gefunden?», fragte Marthaler.
|62| «Ein Forstbeamter hat die Notrufnummer angewählt und erzählt, er habe hier einen völlig verstörten jungen Radfahrer angetroffen,
der zuerst habe weglaufen wollen, der ihn dann aber zu der Leiche geführt habe. Als wir ankamen, saß der Mann im Dienstfahrzeug
des Försters. Er war kaum ansprechbar. Ein Streifenwagen hat ihn aufs Präsidium gebracht.»
«Dann fahren wir am besten dorthin», sagte Marthaler.
«Hast du nicht seit heute Urlaub?», fragte Kerstin Henschel.
Marthaler nickte. Er merkte, dass er Kopfschmerzen
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